Kein Mörder

Carl Nixon lässt eine Gruppe Heranwachsender nach dem Mörder einer jungen Frau fahnden, ein Leben lang

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass ein Täter entdeckt wird, indem man seine Spuren von der Tat zurück zu ihm verfolgt, ist eines der Paradigmen des Krimis, von denen er nicht lassen kann. Das ändert allerdings nichts daran, dass das kaum etwas anderes ist als epistemologischer Optimismus. Allein methodologisch ist die Idee eines eindeutigen Rückverweises auf einen Täter kaum haltbar. Um Irrtümer oder einfach nur falsche Verweise auszuschließen, ist der Aufwand ungemein groß, so groß, dass man annehmen kann, dass nicht die Entdeckung des Täters, sondern die Wiederherstellung der Welt, wie sie sein soll, Grund für solche Konstruktionen ist.

Das lässt sich vielleicht daran erkennen, dass es immer noch als äußerst unbefriedigend gilt, wenn die Suche nach dem Verursacher erfolglos bleibt. Um dem zuvorzukommen, gibt es immer noch das gute Geständnis. Die Methode so manches Ermittlers besteht eigentlich nur darin, den Beschuldigten dazu aufzufordern zu gestehen (mittlerweile Standard im „Tatort“: „Du warst es doch, gibs ruhig zu, ich weiß es“).

Alternativ kann man auch den Täter auf die Suche nach dem Ermittler gehen lassen, was gerade im Serienkillergenre einigermaßen beliebt ist: Nur der entlarvte Killer wird in seiner ganzen Größe für alle erkennbar, also darf er nicht entkommen, sondern muss gefasst werden. Das ist eine einigermaßen unniedliche Form der Koketterie, aber was hilft es. Wenn es um Bedeutung geht, kennt auch der Killer kein Erbarmen, nicht mal mit sich selbst.

Was aber nun, wenn von all dem, das man doch so gut kennt, überhaupt nichts geschieht? Keine eindeutigen Spuren, die zum Täter führen, kein genialer Ermittler, der intuitiv Tatorte liest, kein Mörder, der danach schreit, gefasst zu werden, warum auch immer? Was aber nun, wenn einfach nur eine Tat geschieht und niemand bekommt je heraus, wer der Täter war und warum er gerade das, was er getan hat, getan hat? Was ist, wenn die Tat völlig für sich stehen bleibt?

Im neuseeländischen Dezember des Jahres 1980 wird die Leiche der 17-jährigen Lucy Asher am Strand gefunden. Erwürgt und vergewaltigt. Gefunden wird sie von einem 15-Jährigen. Die Ermittlungen laufen ins Leere, es gibt weder eindeutige Spuren noch irgendeinen anderen Hinweis auf einen Täter. Die Tat verschwindet nicht in der Vergangenheit des kleinen Ortes, in dem dies alles geschieht.

Die Freunde des Jungen, der Lucys Leiche gefunden hat, suchen ihre Leben lang nach dem Täter. Sie sammeln alles an Material, dessen sie habhaft werden können. Sie lagern, sichten, stellen neu zusammen, befragen mögliche Zeugen, suchen nach geheimnisvollen Freunden, schaun sich alle Fremden an, die in jenem Dezember am Ort zu finden waren, nach allen Möglichen also, die in Frage kommen. Sie verdächtigen Leute und versuchen ihren Verdacht zu erhärten. Sie vergleichen diesen Fall mit anderen Fällen. Sie entwickeln eine Hartnäckigkeit, die sich mit nichts begründen lässt. Alles erfolglos. Und ohne Grund.

Niemand von ihnen kennt Lucy Asher vor ihrem Tod besser als man jemanden kennt, der zwei Jahre älter ist als man selbst. Keiner der Jungs schwärmt besonders für sie. Ihr Tod ist es, der sie mitten in die Aufmerksamkeit der Jungen stößt. Und der Umstand, dass ihr Tod nie aufgeklärt wird, führt dazu, dass sie daraus nie wieder entlassen wird.

Daran kann keines der Ereignisse der folgenden Jahrzehnte etwas ändern. Der große Sturm nicht, die skandalöse Tour des südafrikanischen Rugbyteams nicht, der Tod eines der Gruppenmitglieder, Beziehungen, die kommen und gehen, und vor allem deshalb, weil es die Jungs, die nach und nach älter werden, immer noch in den Bann dieses ungeklärten Todesfalls zieht. Sie vergessen nicht, was sie sogar von den Eltern unterscheidet, angezeigt nicht zuletzt durch die Demenz der Mutter.

Nixon entwirft dieses Szenario, zu dem es kein Finale gibt und geben kann, als Skizze eines Falls und seiner Dokumentation. Er ist dabei auffallend unpsychologisch, er lässt seine Jungs selbst als Erwachsene nicht übermäßig darüber nachdenken, warum sie das eigentlich tun was sie tun. Sie tun es. Und sie werden es solange tun, bis sie Erfolg haben – nur dass dann eben nichts weiter geklärt worden wäre als der Täter. Und das ist bemerkenswert.

Wie auch dieser Text bemerkenswert ist. Der Bonner Weidle-Verlag ist bislang nicht für Krimis bekannt, sondern hat sich vor allem als Verleger von deutschsprachigen Autoren der 1920er- und 1930er-Jahre hervorgetan. Daneben gibt es auch Gegenwartsliteratur, aber sie ist nicht das Kennzeichen des Verlags. Er hat viele außerordentliche Texte verlegt, alle jedoch sind sie außergewöhnlich schön produziert.

In seinem Gegenwartsprogramm ist Nixons „Rocking Horse Road“ eine besondere Perle – nicht nur weil er ins Krimigenre schlägt und das mit einem außergewöhnlichen Konzept, sondern weil er als literarischer Text auch außerhalb des Genres bestehen kann.

Titelbild

Carl Nixon: Rocking Horse Road.
Übersetzt aus dem Englischen von Stefan Weidle.
Weidle Verlag, Bonn 2012.
236 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783938803509

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