Es kommt immer anders…

J. K. Rowlings „Erwachsenenroman“ „Ein plötzlicher Todesfall“

Von Charlotte LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Eröffnungsatz des bekennenden Harry-Potter-Fans Lev Grossman im Time Magazine über den neuen Rowling-Roman lautet folgendermaßen: „It’s not really possible to open The Casual Vacancy without a lot of expectations“. Dies ist tatsächlich der Fall. Um so erstaunlicher ist es, dass „J. K. Rowlings erster Roman für Erwachsene“ mit allem bricht – mit allem, was man als Leser erwartet, erhofft und vermutet hat.

„Ein plötzlicher Todesfall“ ist etwas völlig anderes als die Harry-Potter-Bände, und damit wagt sich Rowling weg von sicherem und vorhersehbarem Terrain. Und um dies vorwegzunehmen: Gut so! Ihr ist ein unterhaltsamer, starker, bestürzender und authentischer Roman gelungen.

Der Roman kommt ohne voluminöse Handlung aus und spielt in einer kleinen scheinbar idyllischen Stadt namens Pagford in England. Diese Stadt verliert durch plötzlichen Tod ein Gemeinderatsmitglied. Aus diesem arglos daherkommenden Verlust ensteht die Tragödie des Romans. Im Prinzip bedeutet das Verscheiden von Barry Fairbrother (nomen est omen; die Namensgebung harmoniert in auffälliger Weise auch mit den Charakteren der anderen Protagonisten) die Vakanz der wohl einzig wirklich guten und vielleicht auch perfekten Figur der Geschichte. Rowling demaskiert kurzerhand alles weitere Personal im Roman, ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener, als egoistisch, triebgesteuert, erfolgsbesessen, frustriert, verräterisch, verlogen und nicht fähig zu Liebe und Gefühlen. Am freigewordenen Sitz im Gemeinderat enthüllen sich das Begehren und die Ängste der Bewohner Pagfords. Es gibt Intrigen, Zerwürfnisse, geschäftliche Verbindungen der Parteien, es geht um den Kampf, den sozial schwachen Bezirk Fields und seine Drogenklinik einzugemeinden oder der nächsten Stadt Yarvil zu übergeben. Dies klingt alles andere als nach einer Zauber-Welt, dennoch kommt auch „Ein plötzlicher Todesfall“ nicht ohne eine magische Reminiszenz aus: Im Kampf gegen ihre Eltern veröffentlichen die Jugendlichen der Stadt unter dem Namen „Der-Geist-von-Barry-Fairbrother“, auf der Website des Gemeinderats private, gut gehütete Geheimnisse, die die intimsten Probleme und moralischen Fehltritte der Väter und Mütter offenlegen.

Um das Ende vorwegzunehmen: Es sterben die Jungen, die sozial Ausgegrenzten. Die Frage nach der Schuld an dem bitteren Ende wird nur zum Teil gelöst, durch die Abwesenheit eines (Anti-)Helden der Geschichte. Die Schuldfrage korreliert außerdem mit der Frage nach dem Erzählen: Es gibt im Roman keine Hauptfigur, keinen Protagonisten, keinen Sympathieträger (der einzige stirbt zu Beginn), keine Identifikationsfigur. Dies ist ungewöhnlich. Alle Figuren werden in ihrem Textanteil gleichberechtigt in ihren Mängeln und negativen Seiten geschildert und in ihrem Unvermögen, die Katastrophe zu verhindern.

Die großen Verlierer sind die jungen Protagonisten. Sie sterben nicht nur, sie scheitern in besonderer Weise. Der Schüler Fats ist derjenige, den das Leben der heuchlerischen Erwachsenen abstößt, der authentisch leben will, dies ist sein übergeordnetes Wertesystem. Aus gutem Hause kommend, strebt er das gnadenlose, herbe, mitunter kriminelle Leben an. Keine andere Figur will dies für sich selbst und am Ende des Romans scheitert keine Figur so wie Fats, der bis dahin klug, hart und realistisch wirkte. Am Ende ist er es, der Angst vor der Realität des Lebens hat, sie nicht aushält und am dramatischsten schuldig wird.

Rowling beschreibt Figureninventar aus derenPosition heraus äußerst treffend und glaubwürdig. Aber eine besondere Tiefe erreicht der Roman immer an den Stellen, an denen es um die Jugendliche Krystal, ihren Bruder Robbie, die heroinsüchtige Mutter Terri und Großmutter Nana Cath geht. Diese Passagen sind die realistischsten, authentischsten, dichtesten – und man wird sie nicht schnell vergessen können.

„Terri Weedon war es gewohnt, von Menschen verlassen zu werden. Die erste war ihre Mutter gewesen […]. Als Pflegekind hatte sie Freunde gehabt, aber mit sechszehn war sie auf sich gestellt […]. Sie lernte Ritchie Adams kennen und bekam zwei Kinder von ihm. […] Dann nahm man ihr die Kinder weg, und sie sah sie nie wieder. Banger hatte sie verlasen. Nana Cath hatte sie verlassen. Fast alle gingen, kaum jemand blieb. Es sollte ihr inzwischen nichts mehr ausmachen. […] Krystal hatte Obbo nie leiden können. Eifersüchtig, dachte Terri und beobachtete den schlafenden Robbie im Licht der Straßenlaternen […]. Einfach eifersüchtig. Er hat mehr für mich getan als jeder andere, dachte Terri trotzig, denn bei allen, denen sie Nettigkeiten gutschrieb, machte sie Abstriche, wenn sie sich von ihnen verlassen fühlte. Auf diese Weise war Nana Caths Fürsorge durch ihre Zurückweisung zunichtegemacht worden“.

Dies ist ein Buch für Erwachsene. Es ist kein Krimi und kein Thriller – es ist eine Millieustudie und es geht darüber hinaus. Tatsächlich müssen alle Protagonisten mit emotionaler Instabilität und seelischer und körperlicher Vernachlässigung kämpfen.

Um letztlich einen Vergleich zu den Harry-Potter-Bänden nicht zu scheuen: Die Tiefe und die Vielfältigkeit der Subtexte dieser Bände erreicht Rowlings neues Werk nicht. Interessant und bemerkenswert jedoch ist ihre Darstellung – nicht des Bösen, denn niemand wird umgebracht – der Schlechtigkeit und der Triebhaftigkeit der Figuren. Ein ganzheitlich menschliches Versagen wird demonstriert.

Allenfalls den Schluss des Romans könnte man kritisieren, er wirkt überstürzt und uninspiriert. Die plötzlichen charakterlichen Veränderungen einiger Figuren, die angedeutet werden, erscheinen unglaubhaft und so, als müsse es am Ende – nach der Läuterung – doch noch zu einem irgendwie versöhnlichen Schluss kommen.

Titelbild

Joanne K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall. Roman.
Carlsen Verlag, Hamburg 2012.
574 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783551588883

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