Schiller als Gestalter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung

Yvonne Nilges liest die Rechtsthematik bei Friedrich Schiller in aktualisierender Sicht

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zweifellos war Friedrich Schiller ein Schriftsteller, für den Fragen von Recht und Moral eine zentrale Bedeutung besaßen. So leuchtet es unmittelbar ein, wenn Yvonne Nilges dem Thema „Schiller und das Recht“ eine umfangreiche Monografie widmet. Ausführlich stellt sie eine Erzählung vor („Verbrecher aus Infamie“, die Frühfassung von „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“), theoretische und historische Schriften (die „Schaubühnen“-Rede von 1784, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ und der „Abfall der Niederlande“, die „Gesetzgebung des Lykurgus und Solons“ sowie die „Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs“) und nicht zuletzt Dramen („Don Karlos“, „Wallenstein“, „Maria Stuart“, „Wilhelm Tell“ und das „Demetrius“-Fragment).

Es sind also, sieht man von Lyrik ab, alle für Schiller relevanten Gattungen vertreten, und die Darstellung beansprucht, auch zeitlich das Gesamtwerk zu erfassen. Nilges zeichnet eine Entwicklung nach, die mit kühner Fürstenkritik beginnt und sich angesichts unordentlicher Begleitumstände der Französischen Revolution zum Reformkonservatismus hin verschiebt, mit gleichzeitiger Aufwertung eines Ästhetischen, das gerade als zweckfreie Sphäre eine politische Funktion erfüllen soll. Dem möchte man nicht widersprechen, sehr neu ist es freilich nicht. Wenn Nilges gegen Ende des Buches Schiller immer öfter, mit leicht anachronistischem Wortgebrauch, als liberalkonservativ einordnet, ist dies kein Versehen: Es geht ihr gerade darum, Schillers Modernität zu erweisen. Der Autor erscheint bei ihr als kühner Vordenker von Rechtsstaat, repräsentativer Demokratie, Menschenrechten und europäischem Staatenbund. Auch dieser Gedanke dürfte schon Eingang in etliche Festreden gefunden haben. Er ist jedoch noch niemals so umfassend begründet worden, und diese Begründung gilt es zu diskutieren.

Damit verbunden sind zunächst einige begriffliche Unschärfen. Durchaus überzeugend beschränkt sich Nilges nicht auf die Verarbeitung des zeitgenössischen Rechts in Schillers Werk. Sie weist darauf hin, dass der an der Karlsschule vorherrschende Rechtspositivismus angesichts der damaligen Gesetze und Rechtssprechung Schillers Ansprüche keineswegs befriedigen konnte; und ihre Herleitung, wie sich im „Verbrecher aus Infamie“ eine reformorientierte, auf Resozialisierung ausgerichtete Rechtsanschauung mit medizinischen Erkenntnissen der Zeit verbindet, zählt zu den instruktiven Passagen des Buchs.

Leider aber weitet Nilges vielfach den Gebrauch juristischer Termini ins Metaphorische aus. So heißt es zu dieser Erzählung, aber auch zu anderen Texten immer wieder, es finde ein Verfahren statt, in dem der Leser das Urteil fällen solle. Nun ist aber das Urteil eines Lesers etwas völlig anderes als das eines Richters. Der Richter gleicht einen Sachverhalt mit einem im Gesetz festgelegten Tatbestand ab und fällt auf dieser Grundlage eine Entscheidung. Er kann nicht im Namen des Volkes verkünden, die Angelegenheit sei ambivalent. Dem Leser aber steht dies frei. Er überlegt auf der Grundlage von Prinzipien, die ihm einsichtig scheinen, die durch Literatur vielleicht verändert werden, und er ist in der Position, nicht entscheiden zu müssen.

Das mag wie kleinliche Mäkelei wirken; doch die Neigung, von leider ähnlichen Wörtern auf Identität in der Sache zu schließen, beeinträchtigt auch manche Interpretationen. So begeht, wenn man Nilges glaubt, Tell für alle Schweizer eine „repräsentative Tat“, wenn er Gessler tötet. Man sollte bereits dies nicht glauben – allzu sorgsam hat Schiller Tell eine individuelle Motivation gegeben, um den Schweizer Aufstand von dem Mord reinzuhalten, den er doch braucht. Aber dass die Repräsentativität der Tat „Schillers verfassungsrechtliches Ideal, die repräsentative Demokratie“, bekräftige, wollen wir voll Vertrauen darauf, dass das Geschäft der Mehrzahl unserer Bundestagsabgeordneten eben doch nicht der Mord sei, lieber nicht glauben.

Derartig unscharfe Argumentationen, für die dies ein zugegebenermaßen krasses Beispiel ist, finden sich in der Arbeit zuhauf. Interpretatorisch zentrale Fragen dagegen werden mehrfach gar nicht entschieden, sondern in unklaren Formelkompromissen entschärft. Unbestritten führt in der Schweizer Revolution – in Schillers Darstellung jedenfalls – die Verteidigung überkommener Privilegien zu etwas völlig Neuem. „Die traditionelle, historisch korrekte Reichsunmittelbarkeit der Schweizer wird von anachronistischen, vorzüglich aus dem Naturrecht deduzierten Anschauungen überlagert, wobei das eine in das andere in Schillers Drama ungezwungen übergeht“ – wohl wahr, aber wie der Übergang gestaltet ist, argumentativ oder theatral suggeriert, dem wäre genauer nachzugehen.

Doch erweckt die Theatralität der Dramen Nilges’ Interesse leider nur selten. Bestimmte Figuren werden als Sympathieträger Schillers bestimmt, und deren Reden gelten dann als unmittelbarer Ausdruck seiner Anschauungen. So stellt Nilges fest, dass Posa in seiner Auseinandersetzung mit dem König Philipp II. „nicht von der Demokratie beseelt“ sei. Nun ist der Mann unverkennbar Taktiker, was seine Stärke wie auch seine Schwäche darstellt. Was er dem König sagt, verrät kaum seine Meinung, und erst recht nicht unmittelbar die Schillers.

Überhaupt verstellt die Fixierung auf Schillers Erkenntnisse über das Recht Nilges den Blick auf Schillers Erkenntnisse über Politik. Ungewollt reproduziert sie so das Vorurteil vom Moraltrompeter, der die realen Gegebenheiten nicht begreife. Tatsächlich aber sind moralisch-rechtliche Entscheidungen in der Literatur wie im Leben nur im Zusammenhang von Handlungsmöglichkeiten und -zwängen relevant. Gerade in den von Nilges als desillusioniert bewerteten Dramen hat Schiller die Zwänge, unter denen die Figuren handeln, meisterhaft konstruiert. Wallenstein ist nicht nur der machtdurstige Usurpator, der das Recht verletzt, sondern auch der des Verrats Verdächtige, der eben dadurch in die Lage gerät, klugerweise verraten zu müssen. Elisabeth ist nicht nur die Justizmörderin, als die sie bei Nilges erscheint, sondern muss in Maria Stuart eine Bedrohung sehen – und das unabhängig von Marias subjektiven Absichten.

Die Vermittlungsversuche zwischen Rechtsideal und politischen Notwendigkeiten, die Schiller zumeist als scheiternde in seinen Dramen gestaltet, kommen bei Nilges gar nicht vor. Stattdessen wird das Sein an einer Rechtsnorm gemessen, die ziemlich wahllos zwischen Anschauungen der Handlungszeit, denen von Schillers Gegenwart und denen der Bundesrepublik schwankt. Das führt zu zahlreichen anachronistischen Wertungen; so erweist sich – wenig überraschend – der Prozess, der gegen Maria Stuart geführt wird, als nicht grundgesetzkonform.

Wenn Schiller den Dreißigjährigen Krieg als europäisches Ereignis fasst, so nimmt Nilges dies als Beleg für seinen Vorgriff auf die europäische Einigung des 20. Jahrhunderts; richtiger wäre es als eine späte zutreffende Sicht in aufklärerischer Tradition, vor Anbruch einer Zeit nationalstaatlichen Denkens, zu interpretieren. Was das Kriegsvölkerrecht angeht, geht Nilges ganz unhistorisch vor. Vor aller Erklärung der Menschenrechte, vor jedem kodifizierten Kriegsrecht, gab es wenigstens in innereuropäischen Kämpfen Gewohnheitsrechte, die regelten, was erlaubt und was verboten war. Entsprechend verurteilte Schiller in seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges die Zerstörung und Plünderung Magdeburgs 1631. Zwar vermag Nilges zu zeigen, dass nach Hugo Grotius’ „De jure belli ac pacis libri tres“ von 1720 sogar dieser Übergriff der katholischen Liga zeitgenössisch unter rechtlichem Gesichtspunkt kein Kriegsverbrechen war. Doch waren schon die Beobachter 1631 einig, dass sie es mit einem ganz außerordentlichen, unentschuldbaren Morden zu tun hatten. Schiller war nicht, wie Nilges meint, „der eigenen Zeit sehr weit voraus“, sondern erinnerte an allgemein Anerkanntes.

Überhaupt findet Nilges Bezüge auf moderne Grundrechte, wo sie nur gezwungen konstruiert werden können. Demetrius erkennt spät, dass er im polnischen Interesse als Usurpator den Zarenthron erstrebt hat und dass er tatsächlich nicht der legitime Thronfolger ist. Anachronistisch konstruierte Schiller eine Identitätskrise, wie sie ein Subjekt zum Zeitpunkt der Handlung 1604/06 kaum kennen konnte, sie aber zum Zeitpunkt der Dramenentstehung kurz nach 1800 aktuell war. Dagegen ist nichts einzuwenden, insofern Geschichtsdrama stets Gegenwartsdrama ist und nach Aktualisierung verlangt. Problematisch aber ist, unter literaturhistorischem Gesichtspunkt, die weitere Aktualisierung Nilges’, die mit einem neueren Grundgesetzkommentator die „Sicherung personaler Identität“ als „Kern der Menschenwürde“ begreift und so ein altes Problem mit jenem unter den seit 1949 herrschenden Rechtsbegriffen kontaminiert, der wohl am schwierigsten in einen konkreten Rechtstitel umzuwandeln geht.

Nichts gegen den Bezug alter Werke auf heutige Konflikte – nur so bleiben sie produktiv. Viel aber gegen die Vermengung von Zeitschichten, von früheren und heutigen Rechtsdiskursen, wobei Nilges auch der Gegenwart nicht gerecht wird. Schiller erscheint als visionärer Vorfahr des heute Erreichten, insofern in der immerhin als interdisziplinär beworbenen Arbeit das von Josef Isensee und Paul Kirchhof herausgegebene „Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ als fast einziger Bezugspunkt der gegenwärtigen Verfassungswirklichkeit zitiert ist. In den Zitaten daraus geht es allein um die Rechtsnorm, die Nilges als erfüllt ansieht. Das ist mehrfach deprimierend. Zum einen verschwindet das Spannungsverhältnis zwischen Norm und Realität, das auch noch die Gegenwart kennzeichnet. Zweitens geht in der umfassenden Harmonisierung die dramentaugliche Frage verloren, wie zu handeln ist, wenn unterschiedliche Rechte gegeneinanderstehen. Drittens etabliert Nilges ein Schema von Erstrebtem bei Schiller und Erreichtem in der Gegenwart, das entgegen ihrer Versicherung, wie modern Schiller doch sei, seine Probleme als vergangen an den Rand schiebt.

Nilges hebt den Idealisten Schiller hervor und behauptet, das Ideal sei heute Realität geworden. Damit wäre es abgetan. Doch liegt die Aktualität des politischen Realisten Schiller darin, dass er die Möglichkeiten, die je konkreten Bedingungen, ein Ideal zu verwirklichen, erprobt. Diese Möglichkeiten sind nach wie vor nicht eingelöst.

Titelbild

Yvonne Nilges: Schiller und das Recht.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
400 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311299

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