Eine Bibliothek der verbrannten Bücher

Martin Mulsow schreibt „Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit“

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wissen ist prekär, wenn es unsicher und gefährdet ist; wenn es verboten, durch äußere Umstände in seiner bloßen Existenz bedroht oder auch als vorläufiges seiner Gültigkeit selbst nicht sicher ist. Prekäres Wissen ist widerrufbar, schwebenden Charakters und kann auch völlig unbekannt sein, weil es möglicherweise verloren ging – etwa durch die Unzuverlässigkeit der Post in der Frühen Neuzeit. Es kann sich in niedergeschriebenen Abhandlungen finden, aber mehr noch als „Schmuggelware“ versteckt in Bildern, literarischen Fiktionen, in Fußnoten und handschriftlichen Marginalien: „Wissen in Nischen“.

Der Begriff des prekären Wissens, den Martin Mulsow in seiner gewichtigen, originellen und materialreichen Studie entwickelt, taugt in seiner Vielschichtigkeit für eine Neuorientierung von Wissenschaftstheorie und -geschichte. Mulsow hat bereits 2002 und 2007 wichtige Pionierarbeiten über die deutsche radikale Frühaufklärung vorgelegt („Moderne aus dem Untergrund“, „Die unanständige Gelehrtenrepublik“), die hier mit neuem Quellenmaterial und erweitertem Blickwinkel fortgesetzt werden. Im Kern geht es dabei immer um die Frage, welchen Einfluss die im Hinter- oder Untergrund agierenden Vertreter der Frühaufklärung und insbesondere einzelne furchtlose und originelle Vorkämpfer auf die Herausbildung der Aufklärung überhaupt hatten.

Mulsow meint nicht nur so etwas wie eine Geschichte der Verlierer – der Überlegungen, Denkansätze und Theorien die sich nicht haben durchsetzen können. Zwar wird konsequenterweise vom Wissensprekariat die Wissensbourgeoisie unterschieden, aber diese Unterscheidung ist eine dialektische und keine bloß plakative.

So ist der hier verwendete Begriff von Wissen kulturwissenschaftlich erweitert: Wissen in Gestalt von Ideen, Vorstellungen, Theorien und Diskussionen wird von Mulsow immer verstanden als „eingebettet in Affekte, mentale Einstellungen, […] in Ängste, Abwehrhaltungen und Ambivalenzen; eingebettet weiter in Praktiken, Taktiken und Strategien; eingebettet schließlich in Institutionen, in Kommunikationsweisen und deren Bedingungen“.

In solcher Breite und Tiefe gedacht, führt das sonst manchmal etwas konturlose Schlagwort von der Ideengeschichte zu einer spannenden Kulturgeschichte der menschlichen Denkbewegungen im Verhältnis zu seinen gesellschaftlichen Bedingungen. Dabei ist die Wissenbourgeoisie – das seiner selbst sichere Wissen, das in seiner Sicherheit von äußeren Strukturen gestützt wird – tendenziell eher mit diesen Verhältnissen im Einklang, während das Wissensprekariat eher nonkonformistisch oder schlicht unzeitgemäß ist, wie zum Beispiel das spekulative Denken nach dem Barock und vor Hegel und Schelling. Dennoch wird das naheliegende und auch durch die Wortwahl von prekär und bourgeois sich aufdrängende Schema von unten/oben, widerständig/etabliert immer wieder hintertrieben. Durch die konsequente Perspektive auf die Unterscheidung von unsicherem und gesichertem Wissen entsteht ein nicht ideologisch gefärbter methodischer Zugriff, der auch die vielfältigen Überschneidungen von prekär und bourgeois in den Blick bekommt. Das Wissensprekariat der Frühen Neuzeit verteilt sich amorph durch die Klassen. So gab es durchaus Persönlichkeiten, die versuchten, mittels geschickter Rollentrennungen tabuisierte frühaufklärerische, spinozistische Positionen mit ihren Posten als Universitätsdozenten oder bei Hofe in Einklang zu bringen. Es gelang selten. Die Argumentation etwa des Kameralisten Theodor Ludwig Lau, seine als philosophischer Autor eingenommenen Standpunkte, die man zu Recht als ketzerisch empfinden könnte, würde er sich als empirische Person keinesfalls zu eigen machen, konnte die Obrigkeit nicht überzeugen. In der Regel blieben verpönte Schriften im Verborgenen als clandestina, mit denen allerdings reger Handel unter Sammlern betrieben wurde. Die Praxis des öffentlichen Verbrennens von Büchern – wobei sich oft genug auch die Verfasser mit ihnen auf dem Scheiterhaufen wiederfanden – führte sogar zu dem Plan, eine „Bibliothek der verbrannten Bücher“ zusammenzustellen. Das Projekt gelangte aber offenbar nicht über eine unvollständige Titelliste hinaus. Erfolgreicher war es in einer solchen Situation, prekäres Wissen im Bereich der Bildlichkeit unterzubringen. So stellt die Analyse von Emblemen und anderen allegorischen Darstellungen einen neuen Schwerpunkt dieses Buches gegenüber den vorherigen Untersuchungen Mulsows dar, der besonders innovativ und weiterführend erscheint; man denke etwa an Walter Benjamins Theorie über Allegorien oder auch an gegenwärtig immer mehr in den Fokus rückende Forschungen zur kulturwissenschaftlichen Ikonologie.

Auf seiner Suche nach dem verlorenen Wissen stößt Mulsow auf zahlreiche höchst spannende Geschichten von Gelehrten, die meist „aus der zweiten und dritten Reihe“ stammen, die also die oft übergangene Sphäre der Aneignung, Erprobung, Wiederentdeckung und Erweiterung von bestehenden Ideen und Theorien ausmachen. Die Zusammenführung dieser durchwegschön geschriebenen und klar argumentierenden Fallstudien aus den letzten sieben Jahren vor Erscheinen des Buches ist hervorragend gelungen. Der Verfasser vergleicht das Vorgehen seines Buches mit einem „Episodenfilm“: Protagonisten und Themen tauchen immer wieder auf und werden dabei in sich verändernder Gewichtung in Konstellationen zu anderen gebracht. Diese Kongruenz von Form und Inhalt, die auch auf die von Mulsow an anderer Stelle stark gemachte Konstellationsforschung verweist, bildet eine gelungene Abrundung dieses Plädoyers für eine philosophiegeschichtliche Vielfalt der Perspektiven und das Zulassen ihrer spezifischen Dynamiken. Ein Blick auf die listigen und oft lustvollen Taktiken, mit denen Intellektuelle der Frühen Neuzeit sich Freiräume für ihr Denken erschlossen, könnte auch heute noch manchem prekarisierten Nonkonformisten Mut machen.

Titelbild

Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
556 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783518585832

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