Integration der Ambivalenz

Armin Leidingers kulturgeschichtliche Studie zu „Berlin Alexanderplatz“ stellt die Gewalt der Großstadt in Frage

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 2010 erschienene Arbeit „Hure Babylon. Großstadtsymphonie oder Angriff auf die Landschaft?“ von Armin Leidinger ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die sich Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ aus kulturgeschichtlicher Perspektive nähert. Leidinger untersucht die einschlägige Rezeptionsgeschichte des Romans und hinterfragt bisher konsensfähige Forschungsansätze, indem er die Diskrepanz zwischen tradierten Herangehensweisen und zeitgenössischen Lesarten des Werkes in den Fokus stellt. Mit Hilfe einer Analyse der Bilder des Romans, besonders des „Stadtorganismus“ und der „modernen Stadt im Umbruch“, weist Leidinger nach, wie der Roman im Spannungsfeld der Diskussion um die Großstadt Berlin neu bewertet werden kann, wobei ihm die „Kollektivsymbole“ des Schlachthofes und der Hure Babylon zu wichtigen Grundpfeilern einer kulturgeschichtlichen Textanalyse werden, deren (bisher häufig übersehene) Mehrdeutigkeit Leidinger thematisiert.

Die methodisch strukturierende Unterscheidung von „Stadttext“ als Zeichen eines Textes und „Textstadt“, vorrangig verstanden als die Bilder der Großstadt Berlins im Roman, derer Leidinger sich bedient, erscheint bezogen auf die daraus resultierenden Ergebnisse sinnvoll: So besteht der Stadttext des Romans neben der narrativen Ebene aus montierten Textflächen, woraus sich ein eindeutig uneindeutiges Nebeneinander der Textebenen ergibt, die die dem Roman eigene Multiperspektivität erzeugen. Dieses „Projekt der Verknüpfung“ sieht Leidinger auch in der Figur Franz Biberkopfs umgesetzt, da dieser sowohl mit der ihn umgebenden Stadt als auch mit zahlreichen weiteren Figuren des Romans verwoben wird. Damit widerspricht Leidinger nachdrücklich der These, dass Biberkopf „einen leeren Resonanzkörper für die Diskurse der Großstadt“ darstellt, die er als mehrfache Tendenz in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Döblins Roman ausmachen konnte. Verbunden mit dieser vereinnahmenden und verknüpfenden Tendenz unterschiedlichster Perspektiven und Textebenen sei, so Leidinger, das „elastische Textnetz“, das aus flexiblen Wortfeldern wie etwa „Eisen/eisern“ besteht. Diese tauchen im Roman immer wieder auf, werden dem jeweiligen Kapitelinhalt angepasst und inhaltlich variiert, wodurch semantische Textnetze entstehen, die die Arbeit exemplarisch vorführt.

Die Gesamtheit der Bilder des Romans, demnach die Textstadt, analysiert der Autor mit Blick auf die verbreitete Lesart, Biberkopfs Berlin ausschließlich als Ort der Gewalt zu verstehen. Dagegen argumentiert Leidinger detailreich und plausibel, dass allzu häufig die von Döblin ebenfalls transportierten positiven Stadtbilder vergessen würden, wozu besonders die Inszenierung der Großstadt als „zusammenhängende Ganzheit“ und „Stadtorganismus“ zählen. Damit, und dies ist eine der zentralen Errungenschaften der Arbeit, stellt Leidinger den Bildern von Chaos und Gewalt eine positive Opposition gegenüber und erweitert somit gleichsam die Rezeptionsmodelle des Romans um einen wichtigen Blickwinkel aus gegensätzlicher Perspektive.

Im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Berlin-Romanen wie etwa Erich Kästners „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ oder Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ gelingt darüber hinaus eine weitere – und besonders für den Raum-Diskurs interessante – Beobachtung, indem Leidinger betont, dass das topografische Zentrum des Romans der Berliner Osten sei, was erklärt, warum der zeitgenössisch populäre Weltstadtdiskurs um Berlin bei Döblin gänzlich fehlt.

Der zentrale Teil der Arbeit ist die kulturgeschichtliche Perspektive auf „Berlin Alexanderplatz“,

in deren Zentrum Leidinger die häufig unter dem zu kurz greifenden Stichwort der Großstadtkritik zusammengefasste zeitgenössische Debatte akribisch aufarbeitet, um den Roman und weitere Schriften Döblins im historischen Diskurs stichhaltig zu verankern, woraus sich retrospektiv Konsequenzen für die kultur- und literaturwissenschaftliche Analyse des Romans ergeben. Prägnant sind dabei besonders die beiden extremen Pole der Großstadtfeindlichkeit einerseits und der Weltstadtbegeisterung andererseits, sowie die Argumentationsfigur der „Integration von Ambivalenz“, die es „erlaubt, sich gegen den großstadtfeindlichen Diskurs zu richten und gleichzeitig Mängel der bestehenden Großstadt einzuräumen“, eine Haltung, die sich in „Berlin Alexanderplatz“ eingeschrieben wiederfindet, wie Leidinger nachweist.

Und so liegt der Gewinn der Untersuchung bei weitem nicht nur in einer aufschlussreichen Diskussion der Sekundärliteratur in Hinblick auf die kulturgeschichtliche Bewertung der Großstadtthematik, sondern auch im Angebot einer alternativen Lesart, wenn Leidinger sich dezidiert gegen die „Eindimensionalität […] der Bewertung der Großstadtthematik“ richtet und Döblins Berlin als „ambivalente Stadt im Übergangsstadium“ begreift, was er anhand verschiedener Textzeugnisse des Autors aufschlussreich ermittelt.

Zum Schluss bleibt noch die Frage nach den eingangs erwähnten „Kollektivsymbolen“ des Schlachthauses und der Hure Babylon zu klären, deren Semantik Leidinger erweitert, indem er (hier explizit am Beispiel des Schlachthofes) dem Gestus der „existenziale[n] Integration“ treu bleibt und auch die dargestellten „häßlichen“ Szenen als Teil des großen Gesamtzusammenhanges, des natürlichen [sic!] Organismus begreift, den Döblins Textstadt ausmacht. Doch was für das Schlachten von Schweinen noch gelten mag, erfährt eine Umdeutung, wenn auch die Ermordung Miezes durch Reinhold mit einem Vokabular des Schlachtens montiert wird. Und dann, ganz am Ende, ist die titelgebende Hure Babylon das zentrale Thema Leidingers, der nicht nur eine, sondern gleich mehrere Varianten der babylonischen Hure im Text ausmachen kann, wodurch der häufig allzu eindeutigen Interpretation Berlins als Sündenbabel Alternativen aufgezeigt werden.

Titelbild

Armin Leidinger: Hure Babylon. Großstadtsymphonie oder Angriff auf die Landschaft?
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
400 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783826042119

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