„Webermeisterstücke“

Peter Dettmering schreibt über Chancen und Grenzen der psychoanalytischen Literaturinterpretation

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Psychoanalyse hat das Unbewusste systematisch erforscht und eine kritische Theorie des Subjekts entwickelt. Hier liegt das Einfallstor für die Literaturwissenschaft. Der Urvater der Psychoanalyse, Siegmund Freud, hat bekanntlich nicht nur selbst über literarische Werke geschrieben. Er hat vor allem Wege zur Selbstinterpretation der modernen Kultur geöffnet. Heute stößt die Psychoanalyse, trotz gelegentlich aufflammender Kritik am „Tiefenschwindel“ (Dieter E. Zimmer), immer noch – so heißt es in der „Methodengeschichte der Germanistik“ (2009) – auf „großes Interesse“, vor allem in der Filmtheorie, „da sie die relevanten Fragen nach der subjektiven und sozialen Bedeutung der Literatur besser beantworten kann als die zur Ahistorizität neigenden poststrukturalistischen Ansätze“.

Der Psychoanalytiker Peter Dettmering erforscht seit über vierzig Jahren die Beziehung zwischen Dichtung und Psychoanalyse. Es ist, so Thomas Anz, eine „dramatische Beziehung“, gezeichnet von „Unterlegenheitsängsten und Überlegenheitsansprüchen“, „wie sie sich ähnlich in der therapeutischen Analyse konstituiert“.

Dettmerings Ausgangspunkt ist Freuds These von der „Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten“. Diese Ich-Dissoziation als Resultat der Selbstbeobachtung ist ein Mittel des literarischen und filmischen Erzählens. Dies untersucht Dettmering in drei Schritten. Zunächst geht es, in der Reihenfolge des Entstehens, um die fünf Romane Dostojewskis, „Schuld und Sühne“ (1866), „Der Idiot“ (1868), „Die Dämonen“ (1873), „Der Jüngling“ (1876) und „Die Brüder Karamasoff“ (1880/81), die seit jeher dankbare Untersuchungsgegenstände der psychoanalytischen Literaturwissenschaft sind.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Beitrag Dettmerings über die literarische Dostojewski-Rezeption. Es handelt sich um einen komplexen Fall von methodischer Prädisposition: Ein Autor wird im Licht einer Theorie verantwortlich für das Bild gemacht, das sich seine Nachwelt von seiner Epoche macht. Nietzsche hat mehrfach Dostojewski als Kronzeugen für die Affirmation des Unglaubens zitiert. Karl Jaspers zufolge entwirft Nietzsche den Begriff des „Idioten“ einer empathischen Gegenmoderne in dem Sinne, wie Dostojewski ihn in seinem Roman gebraucht, der allerdings erst 1889 in deutscher Übersetzung erschien. Dieser „Idiot“ ist im Sinne Jaspers’ kein „Held oder Genie“, sondern Verkörperung der sinkenden Kultur, der durch „Wissen um Bildung“ ersetzten Bildung, der „universalen Schauspielerei“ und der durch „Rausch und Sensation“ übertäubten Langeweile. Dostojewski als kritisch-negativer Zeuge der Moderne: Dieses Bild ist wiederum psychoanalytisch bei Freud verankert, der 1928 zwischen den „Fassaden“ des Dichters, des Neurotikers, des Ethikers und des Sünders unterschied und damit literarische und psychoanalytische Kategorien, Moral und Ästhetik vermengte. So sehr Freud Dostojewski als bedeutenden Autor der Weltliteratur schätzte, so hart klingt sein Urteil, Dostojewski sei kein „Lehrer und Befreier der Menschheit“ geworden, sondern ihr „Kerkermeister“. Dettmering erklärt dieses Verdikt mit Freuds Verdruss über Dostojewskis Antisemitismus. Im Verlaufe der weiteren Rezeption Dostojewskis bei Thomas Mann, Gottfried Benn, Heimito von Doderer, Marcel Proust und André Malraux zeigt sich, wie stark dieses moralische Urteil ausgestrahlt hat und wie fruchtbar es ist, sobald es auf den Boden der psychoanalytischen Frage nach Schuld und Sünde fällt.

Im zweiten Teil des Buches finden wir bei aller Knappheit erhellende Literaturstudien zum Doppelgängermotiv bei Kafka, Kleist und anderen Autoren, zu T. S. Eliots Dramen, zu den „Bakchen“ des Euripides, zu Lorca-Gedichten, zu Schillers „Don Carlos“ (wo die regressiven und die progressiven Konstellationen der Figuren untersucht werden) und zu Hölderlin und Rilke. Zentral ist der Aufsatz über „Psychoanalyse und Literatur“. Peter Dettmering entwirft hier eine Skizze der psychoanalytischen Interpretation, ihrer Möglichkeiten und Grenzen: der Rolle des Interpreten, der Frage nach der Bedeutung des Autors gegenüber dem untersuchten Werk, der Kategorisierbarkeit der Kreativität, dem Problem des „Zuviel an Beobachtung“, der „Polarität von Bild und Auge“. Es ist ein Unterschied, ob man im Film beim Rauschen der Bäume naiv ein „Rauschen des Unbewussten“ hört oder ob man sich eines reflektierten Bildgebrauchs bedient. Etwa in Dettmerings Kurzinterpretation von Hitchcocks Thriller „Die Vögel“ (1962): Melanie Daniels, eine der Hauptfiguren des Films, hat „die Büchse der Pandora nach Bodega Bay gebracht und wird in dieser Eigenschaft von Mitchs Mutter – einer von Hitchcocks Mutterfiguren mit schrägem, sonderbarem Blick – misstrauisch beäugt.“

In diesem Sinne sucht im dritten Teil des Buches die Psychoanalyse ihr Glück beim Film. Dettmering widmet sich einer Reihe von Regisseuren (von Antonioni und Bresson über Truffaut bis zu Jarmusch und den Coen Brothers). Auch hier geht es um knappe Hinweise auf die „Erforschung der Affekte“, etwa um den psychologischen Reiz in Hitchcocks „Vertigo“, den der Zuschauer daraus gewinnt, dass aus der Mysterienerzählung ungefähr in der Mitte des Films die Studie einer sexuellen Obsession wird.

Freilich verläuft hier auch eine Grenze der psychoanalytischen Interpretation von Literatur und Film. Der Blick in das Unbewusste einer Figur ist ja immer Illusion und antiillusorische Reflexion zugleich, weil Sehen nicht nur „etwas sehen“ heißt, sondern „Sehen von Repräsentationen“ und „symbolischen Konstrukten“ (Thomas Elsaesser und Malte Hagener). Der psychoanalytische Interpret wird insofern Literatur und Film trotz aller Kreativität letztlich mehr als klinisches denn als künstlerisches Objekt behandeln. Anders gesagt: Sein „Webmeisterstück“ (um den Begriff aus Freuds Goethe-Ansprache 1930 aufzugreifen) kann nie frei von Webfehlern sein. Deshalb ist die Interpretation von Werken der Kunst ein unendliches Annäherungsverfahren. Oder, mit den von Peter Dettmering zitierten Worten Musils: „Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert“. Peter Dettmerings Literatur- und Filmanalysen werfen einiges Licht auf diese Schätze.

Titelbild

Peter Dettmering: Literatur- und Filmanalyse.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
175 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783826049637

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