Bolívar, wie er war

Michael Zeuske porträtiert die Ikone der lateinamerikanischen Unabhängigkeit, legt dabei Wert auf einen hellen Hintergrund und lässt den Heiligenschein weg.

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Simón Bolívar, der „Befreier Südamerikas“, der zugleich die Einheit der ehemaligen spanischen Kolonien zu wahren versuchte (vergeblich, wie wir wissen), der Mann, der einem Land seinen Namen gab (Bolivien) und nach dem die Währung Venezuelas benannt ist (der Bolívar Fuerte), gilt als einer der großen Figuren der lateinamerikanischen Geschichte. In den Narrativen ist er Held und Vorbild, Macher und Mythos, Politiker und Prophet. Gern wird Bolívar instrumentalisiert, für mehr Selbstbewusstsein, mehr Gemeinschaft, mehr Macht. Die Revolutionäre der Gegenwart, die Castros und die Chávez’, wähnen sich als Erfüller seines Vermächtnisses von Freiheit, Unabhängigkeit und Stärke.

Sachlich-distanzierte Beschreibungen der Person und ihres Wirkens sind angesichts dieser Stimmungslage rar. Es ist das Verdienst des Historikers Michael Zeuske (Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln) mit seiner Biografie ein sauber recherchiertes Bild des Menschen Bolívar gezeichnet zu haben, das die Erzählungen vor dem Hintergrund der historischen Fakten auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüft. Viel bleibt nicht übrig vom „Mythos Bolívar“. So habe ein Treffen mit Alexander Humboldt, auf das es einige philologische Hinweise gibt (und zwar aus den Erinnerungen des alten von Humboldt), nie stattgefunden, der Deutsche habe sich für den Mann aus Caracas „kaum interessiert“. Das ist deswegen wichtig, weil der Bolívar-Mythos den Großteil seines Zaubers aus der Behauptung gewinnt, von Humboldt habe im jungen Bolívar jenen Helden wachgerufen, den der Kult um ihn bis heute feiert: „Die [angebliche, J. B.] Begegnung zwischen Bolívar und Humboldt 1804 in Paris steht im Rang eines Erweckungserlebnisses.“ Gezeigt zu haben, dass es dieses „Erweckungserlebnis“ nie gab, ist ein bedeutender Beitrag zur Bolívar-Forschung.

Der Hauptkritikpunkt Zeuskes ist jedoch, dass die mythologische Behandlung Bolívars zu einem verzerrten Bild der Independencia geführt habe, weil die Fixierung auf den „Befreier“ den nüchternen Blick auf die sozialrevolutionäre Bewegung „von unten“ und die „komplizierte Realgeschichte der Unabhängigkeitskriege“ verstelle. Zeuske setzt akribische Arbeit an Quellen zu Leben und Werk Bolívars dagegen, bettet die schillernde Persönlichkeit in den Kontext der Zeitgeschichte und die Situation der wohlhabenden Familie ein und zeigt so einen Bolívar, der weniger ein Sozialrevolutionär als vielmehr ein „militärischer Jakobiner“ war – und eine „Verkörperung der Kontinuität der alten Kolonialeliten“.

Insbesondere legt der Verfasser Wert auf die Feststellung, dass eine historische Betrachtung des lateinamerikanischen 19. Jahrhunderts auch „ohne Bolívar“ sinnvoll ist, um die sozialen und politischen Prozesse, die zur Unabhängigkeit des Kontinents führten, klarer herausarbeiten zu können, etwa die Bedeutung der Abschaffung der Sklaverei für die Unabhängigkeit. So folgt er dem Ansatz, „endlich einmal eine kritische Geschichte der Krise des Kolonialstaats und der Kriege von 1810 bis 1870“ zu schreiben, eine Geschichtsschreibung unabhängig vom Libertador, auf den sich die historische Forschung sonst oftmals zu sehr konzentriere, ja, dessen Werdegang sie geradezu als „stellvertretend“ für die gesellschaftlichen Umwälzungen ansehe, mit der Folge, dass die Prozesse selbst unterbestimmt blieben.

Diesen Ansatz entwickelt Michael Zeuske gekonnt weiter und stellt mit seiner Arbeit den oft ideologisch gefärbten Darstellungen eine quellengestützte Studie entgegen, die in den sozialen Veränderungen sowie in der lateinamerikanischen Variante der Nationalstaatsbildung, wie sie in dieser Zeit auch in Europa zum zentralen Motiv der Politik wurde, den nötigen Raum gibt. Dass diese thematisch weit ausholende Bolívar-Biografie mit etwa 120 Textseiten trotzdem recht schmal bleibt, spricht eher für als gegen sie; wer weiterführende Literatur sucht, wird in der umfangreichen Autoren-Bibliografie fündig werden.

Titelbild

Michael Zeuske: Símon Bólivar, Befreier Südamerikas. Geschichte und Mythos.
Rotbuch Verlag, Berlin 2011.
176 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783867891431

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