„Gut rasiert im zweite’ Glied isch’s Beschte“

Eine konventionelle Biografie über Theodor Heuss bleibt unter dem Niveau ihrer eigenen Recherchen

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor Heuss, ein moderner, liberaler Intellektueller aus der Kaiserzeit, nicht gerade Nietzscheaner oder gar Marxist, aber als Student im Umkreis der Kathedersozialisten und Anhänger des Werkbundes, Journalist, Politiker und Bildungsbürger – rechtschaffen und gemütvoll, unpathetisch, zivil und unmilitärisch, ein einfallsreicher und urteilsfähiger Redner mit einem großen Wortschatz, dabei aber niemals ‚elitär‘ – „gebildet, aber nicht eingebildet“, wie man so sagt; ein Leben lang verheiratet mit einer intellektuell offenbar ebenbürtigen, emanzipierten Frau, Elly Heuss-Knapp, einer Straßburger Professorentochter; schwäbischer Rotweintrinker und bedächtiger Ironiker – aber niemals zuviel davon.

Der um 1950 auch in Westdeutschland am liebsten das Deutschlandlied abgeschafft hätte und die 3. Strophe alleine zu dürftig fand – er konnte nicht wissen, dass 60 Jahre danach schon eine Hymne mit nur einer Strophe die Sangesfreude und Gedächtnisleistung der Deutschen überfordern würde – und der sich 1958 von einer Truppe im Manöver mit einem „Nun siegt mal schön!“ verabschiedete – wenn einem zu Heuss heute gar nichts mehr einfällt, dann zitiert man mit Sicherheit diesen Satz.

Als einer der Väter des Grundgesetzes gilt dieser Heuss als Bundespräsident (während zweier Amtszeiten 1949-59) seit Jahrzehnten und zumal seit den allerletzten schlechten Erfahrungen als Glücksfall für die Gründerjahre der zweiten, der „Bonner Republik“, und er dient als Projektionsfläche für allerlei illusionsfromme Klischees wie „Humanität in der Politik“ oder „Symbiose von Macht und Geist“ – genauer „Macht und Geischt“ –, was auch immer das sein soll. Die hundertfach ausgemalten Züge des Bildes vom Garanten einer „Wiederbegründung der Demokratie in Deutschland“ (Karl Dietrich Bracher, 1965) werden praktisch von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogen, und sei es nur deshalb, weil sie niemanden stören und jeder, sofern er alt genug oder historisch ein bisschen informiert ist, gerne an die Zeit der frühen Bundesrepublik zurückdenkt.

Peter Merseburger, ehemals Journalist beim „Spiegel“ und in den späten 1960er-Jahren Gesicht und Stimme des ARD-Politmagazins „Panorama“, das wirklich kritisch weil anstößig sein konnte, hält es nicht anders. Der geschätzte Autor von Büchern etwa über den „Mythos Weimar“ (1998) und soliden Biografien über Kurt Schumacher (1995), Willy Brandt (2002) und zuletzt Rudolf Augstein (2007) stellt dieses Bild an keiner Stelle in Frage. Stattdessen ist er bemüht, es biografisch zu präzisieren und durch gezielte Recherchen aus der Forschungspublizistik zu den verschiedenen Epochen der neueren deutschen Geschichte mit einer Menge Details zu unterfüttern: von der Inthronisierung des zweiten Wilhelm über die Weimarer erste Republik und die „Tragödie des deutschen Liberalismus“ (Friedrich C. Sell, 1953) bis zur frühen Bundesrepublik an der Seite des Kölner Kanzlers mit dem restringierten Wortschatz, der wohl kaum der „Anfang“ von allem war (Arnulf Baring: „Im Anfang war Adenauer“, 1982), jedenfalls nicht der Anfang alles Guten.

Besonders willkommen sind dem heutigen Leser die detailgenauen Schilderungen der Kindheit und Jugend im schwäbischen Heilbronn, mit dem strengen, im südwestdeutschen Republikanismus von 1848 wurzelnden Vater; die Studentenjahre 1902-05 in München und Berlin zwischen wohlhabender Bohème, moderner Kunst und Nationalökonomie des Vereins für Socialpolitik, die Dissertation bei Lujo Brentano über „Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn am Neckar“ (Nachdruck Stadtarchiv Heilbronn, 2005) in drei Wochen niedergeschrieben in einem Gartenhaus in Dachau mit Blick auf den Schlossgarten; vor allem aber die Aufklärungen über den lebenslang wichtigsten Mentor Friedrich Naumann (1860-1919) in Berlin, einen ehemaligen lutherischen Pastor, im Zusammenhang der politischen Strömungen und Debatten des späten Wilhelminismus zwischen 1890 und 1918. Naumanns Zeitschrift „Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe“ (seit 1884) und sein 1896 gegründeter Nationalsozialer Verein vertraten die Politik eines „sozialen Kaisertums“. Es war die Idee vom Kaiser als nationalem Führer und „Diktator“ einer neuen industriellen (nicht mehr feudal-agrarischen oder gar klerikalen) „Aristokratie“. Vor allem in seinem „National-sozialen Katechismus“ von 1897, in dem er den Machtsprüchen des befreundeten Max Weber in dessen berüchtigter Freiburger Antrittsrede von 1895 folgte, war die Rede von einem „demokratischen Cäsar“, der das nationale Reich nur dann in eine gesicherte imperiale Zukunft führen kann, wenn er sich auf die Hilfe der „Masse“, der „Demokratie“, verlassen kann, und er musste deshalb ein „sozialer Imperator“ sein. Das heißt: Industriekapitalismus, vulgärdarwinistischer Imperialismus und dabei soziale Integration der (Arbeiter)Massen – „Demokratie“ als Sicherung der Massenloyalität. Konkret hieß das: Flotten- und Weltmachtpolitik, Kolonialismus, großdeutscher Nationalismus (einschließlich Österreichs) und Irredentismus auch noch nach 1919, Verständnis für den gewöhnlichen Rassismus und Antisemitismus, zum Beispiel für einen mörderischen Rassisten wie Carl Peters in Südwestafrika, und im Krieg protestierte man gegen die Vorwürfe der „Kulturbarbarei“, die gegen die deutschen Besatzer im Westen erhoben wurden. In einem Brief an Alfred Weber sieht Heuss die Figur Naumanns zwischen „Franziskus und Machiavell“. Dieser national-soziale Liberalismus mit seiner stets betonten „modernen“ Programmatik muss zwischen 1890 und 1918 bis in die zweite Republik von einer enormen Anziehungskraft auf die protestantischen Bildungs(klein)bürger gewesen sein, propagierte sie doch die volle Teilhabe an den Werten und Zielen des Machtstaates und lieferte die modern-demokratische Gesinnung und das gute christlich-soziale Gewissen gleich mit, ohne dass man sich mit den politisch und weltanschaulich verrufenenen Extremen von Links und Rechts einlassen musste, und Heuss als einer der nächsten Mitarbeiter Naumanns hat immer dazugehört. Im Reichstag der Republik steht seine großdeutsch-nationale DDP zum Beispiel auch den ansonsten bürgerlichen Antimilitaristen und Pazifisten (wie etwa Ludwig Quidde) durchaus fern. Man muss klar sehen, dass dieser merkwürdige Liberalismus mit „Demokratisierung“ in Wirtschaft und Gesellschaft um 1970 und den Jahren Willy Brandts, für die aber auch schon in den Mitbestimmungskämpfen der 1950er-Jahre gestritten wurde, sehr wenig gemein hat.

Heuss ist unter den Teilnehmern der vom Verleger Eugen Diederichs 1917 auf der Burg Lauenstein in Thüringen veranstalteten politischen Tagungen mit Max Weber und Ernst Toller, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies, eines der berühmten Fotos zeigt den nachdenklichen Weber im Sommersakko, auf einem anderen ist auch Heuss zu sehen (mit den Abbildungen in Joachim Radkaus großer Biografie „Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens“, 2005). Er wird 1920 Dozent der privaten Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und vertritt von 1924 bis 1933 mit Unterbrechungen die 1918 gegründete Deutsche Demokratische Partei als Abgeordneter im Reichstag (die DDP, 1930-33 als Deutsche Staatspartei, DStP, nach der Fusion mit der teils antisemitischen Volksnationalen Reichsvereinigung).

Er verficht die Ablehnung des Vertrags von Versailles, seine Partei hat im nationalen Geiste Naumanns Vorbehalte gegen die Politik Stresemanns und gegen den Völkerbund oder gar die Europabewegung Coudenhove-Kalergis und Graf Kesslers. Als er 1926 zusammen mit Gertrud Bäumer (auch sie enge Mitarbeiterin Naumanns und der Hilfe) das „Schmutz- und Schund-Gesetz“ einbringt, das von der Linken als Zensur bekämpft wird, und die Initiative seiner Partei mit einer Rede begründet, wird er in der „Weltbühne“ von Kurt Tucholsky (alias Ignaz Wrobel) attackiert: „Daß Theodor Heuß, der wacker mitgeholfen hat, verführt von dem Beifall kleinbürgerlicher Versammlungssäle, ein ehrlicher, überzeugungstreuer und rechtschaffener Mann ist, verschlimmert die Sache noch. Wäre er politisch begabt, er könnte von mir aus weniger anständig sein. Der leicht säuerliche Knastergeruch eines Tübinger Seminars durchzitterte die Luft“. Nicht zufällig hatte der literarisch interessierte Heuss mit den mehr oder weniger radikalen Literaten wie Ossietzky, Tucholsky, Erich Mühsam oder gar Brecht nie etwas zu schaffen, die Positionen wie die seinen mit einem zynischen Halbsatz zu erledigen verstanden, ein denkwürdiges Beispiel ist in dem Agitationsfilm „Kuhle Wampe“ von Brecht/Eisler/Dudow (1932) das Gespräch in der Berliner S-Bahn.

1932 erscheint mit dem Buch „Hitlers Weg“ eine Studie des Parteienforschers Heuss über den Aufstieg der NSDAP und ihres Führers. Merseburger nennt es „gewiß zu milde in seiner Kritik“, aber „die wohl erste kritische“ Auseinandersetzung war sie nun wirklich nicht. Ernst Niekischs Schrift „Hitler – ein deutsches Verhängnis“ ist aus dem gleichen Jahr und bleibt gänzlich unerwähnt. Schon die zeitgenössische Kritik hat hier klarer gesehen, die „Frankfurter Zeitung“ oder der „Vorwärts“, der fragt, ob hier „nur Verständnis“ am Platze sei, „wo sich Gewalt, Brutalität, Terror und bewußte Unvernunft in dieser Bewegung organisiert und gesammelt haben?“

Und im März 1933 stimmt Heuss und seine Partei dann mit Ja für Hitlers Ermächtigungsgesetz. Fast reflexhaft wird diese Einwilligung in die nicht nur parlamentarische Selbstabschaffung bis heute als der große Makel in der politischen Biografie auch noch des Bundespräsidenten ins Feld geführt (in Übereinstimmung mit reuevollen Äußerungen von diesem selbst), und der Biograf behandelt das Thema pflichtschuldig wie eine Art ‚Ursünde‘ und widmet ihm viele kenntnisreiche Erläuterungen. Für einen kritischen Zugriff auf das Heussbild ist es aber einfach die falsche Frage: Erstens gibt es keine Lichtgestalt ohne Schatten, sie braucht ihn geradezu; zweitens war das Votum der kleinen Staatspartei aus fünf Abgeordneten, die in den Märzwahlen bei weniger als einem Prozent der Stimmen angelangt war, politisch irrelevant, wenn sogar der Mut der SPD zum Nein am 24. März 1933 nichts mehr bewirkt hat, und drittens muss man fragen, ob dieses Ja nicht folgerichtig war bei diesem Politiker-Typus und dem Konglomerat der politischen Positionen, das seinen Standort ausgemacht hat? Liest man dann vom Überleben in den Nischen der sogenannten ‚Inneren Emigration‘ – ein freigebig auch auf Heuss angewandter fragwürdiger Begriff –, wurde aus dem „Mann des Maßes“ ein „Mann der Vorsicht“, der öffentlich den Mund hält nach der Kommissdevise „Nur nicht auffallen, weder im Guten noch im Schlechten!“, deren honoratiorenschwäbische Version lautet: „Gut rasiert im zweite’ Glied isch’s Beschte“ (der Zitatnachweis ist hier unklar).

Am Ende ‚droht‘, so möchte man sagen, das Bild eines Schönwetter-Politikers in beiden deutschen Demokratien, der immer, wenn es dunkel wurde, versagt hat: 1918 und 1933 im besonderen, und nach 1949 bis 1963 (2013 steht also der 50. Todestag bevor) wäre es demnach hell geblieben – wenn man den Weichzeichnern der Geschichte glaubt und die für manche sehr ungemütlichen Züge der frühen BRD nicht zur Kenntnis nimmt, die auch bei Merseburger keine Rolle spielen, von denen in letzter Zeit jedoch wieder mehrere sichtbar gemacht wurden: die Nazis in der Führung des Bundes der Vertriebenen[1], die Nähe zur DDR im Sport-Doping, die intensive staatliche Post- und Telefonüberwachung[2].

Merseburgers Biografie hat zwei Hauptschwächen: Es wird zu wenig Wert darauf legt, Heuss einem politischen Typus zuzuordnen. Nur so aber kann man ihn beurteilen – denn ein (moralisches) Urteil über dieses Leben steht uns, zumal als Nutznießer einer mehr als 60 Jahre andauernden europäischen Friedens- und Wohlstandsepoche, eigentlich nicht zu. Zur Konstruktion eines Typus aber hätte es sorgfältiger Vergleiche mit geeigneten Beispielen bedurft, krass differente Kontrastparallelen wie etwa der schon erwähnte Ernst Niekisch (1889-1967), der nach Nazi-Zuchthaus und Irrwegen in der frühen DDR halb erblindet in Westberlin landet und jahrelang um eine Wiedergutmachungsrente prozessiert, während Heuss zum Bundespräsidenten arriviert ist, oder/und viel näher liegende Beispiele wie jene Gertrud Bäumer, ebenfalls enge Mitarbeiterin Naumanns, DDP-Abgeordnete und schließlich Mitbegründerin der CSU. Die zweite Schwäche hängt damit zusammen: Die weitläufige Erörterung vieler Ergebnisse der Zeitgeschichtsforschung, die den Wert des Bandes ausmacht, hätte das Einbringen von Beispielen zu Vergleichszwecken erleichtert, es hätte aber auch generell einer Überprüfung der Bestandteile des konventionellen Heussbildes dienstbar gemacht werden können. Diesem gegenüber ist Misstrauen angezeigt, das sich nicht weghistorisieren lässt und das der Autor so gar nicht zu kennen scheint. Deshalb muss man leider feststellen, dass diese Biografie unter dem Niveau des kritischen Potentials bleibt, das in den von ihm selbst aufgebotenen Recherchen steckt.

[1] Vgl. Michael Schwartz: Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundes der Vertriebenen und das Dritte Reich. München: Oldenbourg 2013.

[2] Vgl. die Untersuchung von Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen: Vandenhoeck 2012.

Titelbild

Peter Merseburger: Theodor Heuss: Der Bürger als Präsident. Biographie.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
670 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783421044815

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch