Zeigen und Verfremden

Ulrich Kittsteins findiger Kommentar zu Brechts Lyrik

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hat der Lyriker Bertolt Brecht dem Dramatiker den Rang abgelaufen? Schon 1978 stellte Walter Hinck fest, die „Stunde der Lyrik“ Brechts sei „endgültig gekommen“, und 1996 meinte Marcel Reich-Ranicki, bleiben werde von Brecht „vornehmlich die Lyrik“. Der grundlegend informierende und klug orientierende Kommentar des Mannheimer Germanisten Ulrich Kittstein bestätigt diese These. Er kann sich auf eine sichere Editionslage und eine breite Textbasis stützen; über 2.300 lyrische Texte versammelt die „Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe“ in fünf Bänden. Kittstein kontextualisiert und analysiert Brechts Gedichte mit großer Umsicht und zeigt, dass, um mit Brecht zu sprechen, ein Gedicht manchmal „sehr wenig Arbeit“ verschlingen und viel Arbeit vertragen kann.

Was das Besondere von Brechts Lyrikverständnis im 20. Jahrhundert ist, führt das erste Kapitel der guten Übersicht halber in einer Art Ausschlussdiagnose aus. Gegen Emil Staigers spätidealistische Subjekt-Theorie steht Brechts Bild vom Gedicht, das keine Stimmung, sondern Einsicht und Erkenntnis erzeugt. Geprägt von der Neuen Sachlichkeit, zählen der Gebrauchswert und der dokumentarische Charakter der Gedichte. Damit schere Brechts Lyrik, so Kittstein, auch aus der sprachmagischen Traditionslinie der modernen Poesie aus, die Hugo Friedrich mit der poésie pure beginnen lässt. Brechts Gedicht sei dialogisch strukturiert, auf Verständlichkeit, „künstlerisch geformte Erkundung von Haltungen“ und eine „realistische Poetik“ angelegt. Das Zeigen im Gedicht aber bedarf eines Verfremdens, das den Leser zum kritischen Denken anleitet. Das gestische Verfremden wird so zu einer sozialen Kategorie der lyrischen Sprechweise, die dem Menschen Handlungsoptionen anheim stelle, damit er die Welt genießen und verändern könne. Gerade die Umerziehung vom Stieren zum Sehen verrät die Kunst des Theatermanns Brecht, der das lyrische Ich als Kommentator oder Beobachter sprechen lässt und neben den epischen Duktus die argumentative Lektion rückt.

Die folgenden 15 Kapitel stellen thematische Schwerpunkte in der Werkentwicklung vor: etwa die transzendenzlos gewordene Welt in der „Hauspostille“ (1927), Eros und Sexualität in den außerordentlich vielfältigen Liebesgedichten, die antifaschistischen Gedichte (das offene Reden in „Lieder Gedichte Chöre“) und die Antikriegslyrik (mit dem ausgeprägten Opferinteresse), die Lyrik aus dem skandinavischen Exil (so die Svendborger Elegien), die amerikanischen Gedichte (etwa die „Hollywoodelegien“ im „Schauhaus des easy going“), die Buckower Elegien als „poetische Sinn-Bilder“, die Gedichte über Alter, Tod und Fortleben. Dabei gelingt es, einleuchtende Interpretationen einzelner Gedichte (etwa die Überbietung des expressionistischen Menschheitspathos durch die szenische Satire in der „Legende vom toten Soldaten“, 1928) mit historischen Kontexten zu verbinden und auch Bedenken gegenüber Brechts Realitätserwartungen (etwa in Bezug auf den Sozialismus und auf seine unterbliebene Stalin-Kritik) zu äußern.

Man muss nicht mit allen Deutungen einverstanden sein, etwa mit der antiautoritären Lesart des „Lobs der Partei“. Aber die Übersichtskapitel eignen sich hervorragend zum Einstieg in thematische Felder der Lyrikgeschichte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne mag gelten, was Brecht 1950 an seinen Verleger Wieland Herzfelde schrieb, der seinerzeit die Brecht-Anthologie „Hundert Gedichte“ vorbereitete: „Der Hut, unter den sie gemeinhin gebracht werden, ist der Hut des Verfassers, in meinem Fall die Mütze. Aber dies ist auch gefährlich, die vorliegenden Gedichte mögen mich beschreiben, aber sie sind nicht zu diesem Zweck geschrieben. Es handelt sich nicht darum, ‚den Dichter kennenzulernen‘, sondern die Welt und jene, mit denen zusammen er sie zu genießen und zu verändert sucht.“

Titelbild

Ulrich Kittstein: Das lyrische Werk Bertolt Brechts.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2012.
377 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024510

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