Eine untergegangene, aber doch noch präsente Spielform

Ursula Schulze präsentiert eine einführliche Entwicklungsgeschichte des frühen geistlichen Spiels

Von Madeleine BrookRSS-Newsfeed neuer Artikel von Madeleine Brook

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schulzes illustrierte Einführung in das geistliche Spiel im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit stellt eine dringend erforderliche Ergänzung dar, die der Einsteiger als Ausgangspunkt für die eigenen Studien zweifellos dienlich finden wird. Der Schwerpunkt liegt hier auf Texten, die typische beziehungsweise wichtige Beispiele ihrer Gattung oder Subgattung repräsentieren – das heißt, wie es gleich im ersten Kapitel lapidar ausgedrückt wird, „theatrale Aufführungen […], die biblische und legendarische Stoffe verbal, musikalisch und mimetisch in einem kirchlich kontrollierten Veranstaltungsrahmen gestaltet haben“.

Dabei geht Schulze mit Blick auf die wissenschaftlichen Trends in der Spielforschung seit den 1990er-Jahren vor: Statt die Spieltexte katalogisch und trocken deskriptiv aufzulisten, richtet sie ihren Blick auf kulturgeschichtliche Bezugspunkte wie Performativität der Spiele und deren Wirkungskraft, sowie auch auf die Funktionen der Spiele in der Gemeinschaftsbildung und der Frömmigkeitspraxis der Zeit. Das es hier nicht nur um einen handhabbaren Zugang zu den formalen Inhalten einer theatralen Gattungsart geht, sondern prinzipiell um eine Entwicklungsgeschichte des geistlichen Spiels, wird dem Leser von Anfang an bewusst und wiederholt in den kommenden Kapiteln deutlich gemacht.

Schulze behandelt die Terminologie des geistlichen Spiels, den historischen Hintergrund zu geistlichen Spielen und den Übertragungsformen der Texte relativ zügig – zügig auch den Stand der Forschung, der angesichts der einführenden Absichten des Buches auf drei Seiten vielleicht etwas zu knapp zusammengefasst wird. Zwei verhältnismäßig kurz gehaltene Kapitel sind den formalen Inhalten der Texte, so der Notenschrift und den Regieanweisungen einerseits, und deren materiellen Vortragskontexten andererseits gewidmet. Diagrammatische Bühnenpläne aus Beispielmanuskripten veranschaulichen besonders prägnant die Möglichkeiten der Spiele, sowie deren Entwicklungen in den Vortragsweisen über den im Fokus stehenden Zeitraum.

Der Großteil des Buches widmet sich den Spielen selbst. Geordnet sind sie in erster Instanz nach den wichtigsten Festen des Kirchenkalenders, mit denen die Mehrheit verbunden ist – Ostern, Weihnachten, Fronleichnam, Himmelfahrt – bevor im Anschluss Subgattungen besprochen werden, die keinen direkten Zusammenhang mit spezifischen Zeitpunkten des Kirchenjahres haben, beispielsweise Endzeitspiele, Legenden und Moralitäten. Die unterschiedlichen Gattungen werden zunächst jeweils mit Rücksicht auf das entsprechende Fest und dessen begleitende Traditionen, Frömmigkeitspraxen und -motiven beschrieben. Dann wird eine Auswahl an Spieltexten chronologisch vorgestellt.

In der Regel zieht die Besprechung einen Bogen von der Übertragung des Texts, seinem Inhalt, seiner Anordnung und den wichtigsten theologischen und dramaturgischen Aspekten zu einer Übersicht der Effekte des Spiels, sowie seine Beziehung zu anderen Spieltexten, und seinem Status als typisch beziehungsweise außerordentlich in seiner (Sub-)Gattung. Besonders interessant im Rahmen der entwicklungsgeschichtlichen Programmatik des Buches ist der Vergleich zwischen den eventuellen Deutungen und Einwirkungen der Spiele auf ihre Rezepienten und auf spätere Formen des geistlichen Spiels, wobei letzteres nur in bestimmten Instanzen angedeutet wird. Selbstverständlich werden – besonders in diesem Bezug – reformatorische Bedenken über die rechtmäßige Wirkungskraft der Spielaufführungen und die ausschlaggebende Wirkung dieser Gedanken auf die Spiele nicht außer Acht gelassen.

Thematische Aspekte und gesellschaftliche Funktionen der geistlichen Spiele werden in gesonderten Kapiteln ausführlicher diskutiert. Diese Kapitel gehen zwar nicht umfassend vor, doch Schulze legt hier sinnvollerweise großen Wert auf aktuelle Problematisierungen in der modernen Forschung, zum Beispiel die Funktion von weiblichen Figuren, die Bedeutung von Teufelsszenen, Juden und die Beziehung der Spiele mit zeitgenössischen Strafvollzugspraktiken. Bemerkenswert ist die Betonung der intermedialen Beziehungen der geistlichen Spiele mit den Gattungen der bildenden Künste, zu denen Zeitgenossen allgemeinen Zugang hatten; hier seien beispielsweise Altarbilder und Kirchenfenster erwähnt. Überhaupt wird das geistliche Spiel als multimediales Ereignis betont, was sie konsequent auch für Schulzes heutige Leserschaft anschaulich greifbar macht. An die optische Wirkung und wohl auch an die optischen Einschränkungen der Spiele auf und für ihr Publikum wird nochmals in der Schlussdiskussion über die Rezeption durch das Publikum, und die Instrumentalisierung der Spiele durch kirchliche sowie auch städtische Instutitionen angeknüpft.

Der Titel des Buches definiert den Zeitraum und die thematische Festlegung der vorliegenden Untersuchung auf geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit – und tatsächlich ist das Gros der exemplarisch vorgeführten Spieltexte aus dem Zeitraum vom 13. bis zum 16. Jahrhundert ausgewählt worden, mit vereinzelten Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. Doch in einem Kapitel, das wohl quasi als „Epilog“ fungiert, blickt Schulze über die Grenzen ihrer Hauptpunkte hinaus zu zwei bekannten, heute noch vorhandenen Formen des geistlichen Spiels. Dieser Epilog dient prinzipiell dazu, den Leser sowohl an die kontinuierliche Relevanz von mittelalterlichen Spieltraditionen zu erinnern, als auch von den enormen dramaturgischen und sozialen Entfremdungen zwischen dem geistlichen Spiel des Mittelalters und seiner heutigen Verkörperung zu überzeugen.

In Struktur und Umfang ist „Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit“ wohl als ein erstes Nachschlagewerk für interessierte Leser und Studenten zu verstehen – und hiermit sei eine Lücke in der bisherigen Forschungspublizistik lobenswert geschlossen. Schulze präsentiert ihrer Leserschaft mit einer informativen, einleuchtenden und überaus lesbaren Einführung in eine bestimmte Form von Massenmedium, das ausschlaggebend ist für eine Einsicht in die Kulturwelt des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

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Ursula Schulze: Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2012.
263 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783503137176

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