Messwein ist dicker als Blut

Donna Leons Roman „Himmlische Juwelen“ handelt von dem Fall des Barockkomponisten Agostino Steffani

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Musikwissenschaftlerin Dottoressa Caterina Pelligrini bekommt den Auftrag, in ihrer venezianischen Heimatstadt den Inhalt zweier Truhen aus dem Nachlass des ehedem berühmten, nunmehr fast vergessenen Barockkomponisten und Geistlichen Agostino Steffani zu begutachten. Nach seinem Tod ging Steffanis Besitz an eine vatikanische Organisation, der Congregatio de Propaganda Fide, wo die Truhen vor ein paar Jahren bei einer Bestandsaufnahme entdeckt wurden. Steffanis Nachfahren, die Cousins Stievani und Scapinelli, ist es gelungen, sie in ihren Besitz zu bringen. Nun lagern sie im Tresor der Stiftung Fondazione Musicale Italo-Tedesca, die sich der Förderung der Barockmusik verschrieben hat.

Die Cousins, Unternehmer, Steuerbetrüger und Wucherer sind zum Teilen zu gierig. Sie hoffen, dass Caterina einen Hinweis findet, welchem Familienzweig Steffani sein Erbe hinterlassen wollte. Caterina beginnt die Dokumente zu sichten und informiert sich in der Bibliothek Marciana und bei ihrer Schwester Cristina, Nonne, Historikerin und Professorin in Tübingen, über das Leben Steffanis und seine Zeit. Dabei entdeckt sie, dass Steffani nicht nur Komponist, Geistlicher und Diplomat war, sondern möglicherweise auch Kastrat, Spion und verstrickt in die berühmte Affäre um Graf Philipp Königsmarck, der eine Liaison mit Sophie Dorothea hatte, Schwiegertochter von Kurfürst Ernst August von Hannover und Gattin von Georg Ludwig.

Der sollte als Georg I den englischen Thron besteigen und das Haus Hannover begründen, 1917 umbenannt in Windsor. In der Nacht des 1. Juli 1694 verschwand Königsmarck. War Steffani der Mörder? Was geschah mit den Himmlischen Juwelen, die er laut Familienlegende besessen haben soll? Die Cousins hoffen, mit Caterinas Hilfe den Schatz zu finden.

Zwei feindliche Vettern, ein Einbruchdiebstahl, ein bedrohlicher Fremder, ein wiederentdeckter Schatz: Es ist ein Donna Leon ohne Commissario Brunetti, aber mit Venedig und gleich zwei mysteriösen Fällen.

Die Ausgangsidee zu dem ungewöhnlichen Krimi über eine Musikwissenschaftlerin, die bei ihren Recherchen über einen längst verstorbenen Komponisten Ungeheuerliches entdeckt, stammte von Cecilia Bartoli, die für ein neues Aufnahmeprojekt auf die Musik des Barockkomponisten Agostino Steffani (Stabat Mater, Niobe) stieß: Ein Geistlicher, Diplomat in Hannover und Düsseldorf, vielleicht auch Kastrat und Geheimagent. Sie fand, der Mann mit dem geheimnisumwitterten Leben sei ein Fall für die Schöpferin von Commissario Brunetti. Da Donna Leon sich nicht als Autorin von Historienromanen sieht, baute sie den Steffani-Fall in eine Gegenwartsgeschichte ein. Die Hauptfigur Caterina ist Mitte dreißig, gebürtige Venezianerin aus einer Familie mit fünf Töchtern, intelligent, zynisch und unabhängig. Nach abgebrochener Gesangsausbildung und abgebrochenem Jurastudium entschloss sie sich zum Studium der Musikwissenschaften, mit Stationen in Sankt Petersburg und Wien, wo sie promovierte. Recherchen führen sie nach Manchester, wo sie durch einen rumänischen Musikwissenschaftler von dem Projekt in ihrer Heimatstadt Venedig hört, die sie ebenso liebt wie die Musik.

Als sie mit der Sichtung der Dokumente beginnt, hofft sie zunächst nur, unentdeckte Partituren zu finden. Doch je mehr sie sich in die Materie vertieft, desto mehr verdichtet sich der Verdacht, dass Steffani in die Königsmarck-Affäre verwickelt war, einen der spektakulärsten Mordfälle der Geschichte. Und desto prekärer wird Caterinas eigene Situation. Sie wird von einem Fremden verfolgt, und der Anwalt der Cousins, Dottor Andrea Moretti, ein eleganter Mann mit seidener Krawatte und halbseidenem Charakter, zeigt ein besonderes Interesse an ihr.

Caterina als weiblicher Brunetti nähert sich dem Geheimnis um Steffani, die Himmlischen Juwelen und Moretti mit wissenschaftlicher Akribie und detektivischem Spürsinn.

Ein elegant erzählter Kriminalroman über Gier und Korruption damals und heute, humorvoll und ernst, auch ohne Commissario Brunetti spannend, mit viel Sinn für Details und venezianische Idiosynkrasien.

Titelbild

Donna Leon: Himmlische Juwelen. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2012.
300 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068375

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