Vom Glück der schwarzen Galle

Zwei Sammelbände zum Thema Melancholie

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Thema der Melancholie, die sich in ihrer fast zweieinhalbtausend Jahre währenden Geschichte in vielen Texten und Bildern manifestiert hat, erweist sich an der Zeitenwende vom zweiten zum dritten Jahrtausend als unverändert aktuell. Der Beweis dafür sind die unzähligen literaturwissenschaftlichen, medizinisch-psychologischen, soziologischen und kunstgeschichtlichen Studien, die in den vergangenen Jahrzehnten dazu erschienen sind. In Anbetracht der kaum mehr zu überblickenden Neuerscheinungen würde man doch gerne wissen, was die Autoren und Herausgeber von Sammelbänden heute dazu bewegt, sich immer wieder mit der Schwarzgalligkeit zu beschäftigen. Der Verdacht, daß es sich hier gar selbst um ein Indiz für zunehmende Müdigkeit, unhaltbare Schwere oder Melancholieanfälligkeit handelt, die sich hinter der glücksverheißenden Fassade unseres Informationszeitalters verbirgt, ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Vor allem im deutschsprachigen Raum findet zur Zeit eine regelrechte Debatte zum Thema statt, die zunächst eines deutlich macht: Melancholie ist mehr als Traurigkeit ohne Ursache, sentimentale Nostalgie, Weltschmerz oder faules Nichtstun.

Von allen derzeit im Umlauf befindlichen Taschenbüchern, die sich diesem uralten Phänomen widmen, seien besonders zwei hervorgehoben. Beide Bücher ergänzen sich auf wunderbare Weise; und beide tragen den schlichten Titel: "Melancholie". Das erste, von Peter Sillem herausgegebene "Lesebuch" des Deutschen Taschenbuch Verlages mit dem dialektischen Untertitel "Vom Glück, unglücklich zu sein", ist sicherlich das anspruchsvollste und schönste. Es bereitet ein intellektuelles Vergnügen, da es anschaulich dokumentiert, wie bedeutende (und betroffene) Literaten, Philosophen und Psychologen über Jahrhunderte und Ländergrenzen hinweg durch ihr Thema miteinander ein intensives "Gedankenspiel" aufnehmen, das von Grund auf ernst ist. Am Ende der sympathischen Vorbemerkung des Herausgebers, der die Texte weder bevormundet noch ihrem Gespräch vorgreift, hat man eine knappe, aber kompetente Einführung in das Thema der Melancholie genossen. Bei der Text- und Bildauswahl bewies er eine glückliche Hand, indem er liebevoll versammelt hat, was zusammengehört - darunter Beiträge vom griechischen Hippokrates über Marsilio Ficino, Robert Burton, der die Grundlagen für das englische Melancholie-Verständnis und das Anomie-Konzept schuf, Liselotte von der Pfalz bis zu Sören Kierkegaard, Sigmund Freud, Walter Benjamin und Susan Sontag. Einige von ihnen (etwa Diderots Artikel "Mélancolie" aus der "Encyclopédie" und ein zentraler Aufsatz Jean Starobinskis) sind erstmals in deutscher Sprache zu lesen. Das Anliegen dieser Anthologie ist darin ernst zu nehmen, daß sie mit Hilfe dieser Texte versucht zu klären, was Melancholie denn eigentlich ist: "Was heißt es, wenn jemand sagt, er oder sie, eine Landschaft, eine Musik sei melancholisch? Hat man früher dasselbe darunter verstanden, oder bedeutete Melancholie etwas anderes? Was wurde von früheren Bedeutungen tradiert, was wurde über die Jahrhunderte verschliffen und ging verloren? Wie kommt es, daß auch heute noch der Melancholie ein Hauch von Genialität anhaftet? Und schließlich: Gibt es das überhaupt - die Melancholie?" Wer sich nach dieser spannenden Lektüre weiterhin auf die Spur der "schwarzen Galle" (atra bilis) begeben will, der findet in dem Buch auch eine Auswahlbibliographie. Bei dieser hätte man sich allerdings mehr herausgeberische Sorgfalt gewünscht. Beispielsweise lautet der Vorname des Autors von "Künstler und Melancholie in der Romantik" (Frankfurt/M. und Bern 1984) nicht Fritz, sondern Franz Loquai. Dennoch ist es ein hervorragendes Buch, das ernsthafte Konzentration verlangt und allzu oft an das "Glück" erinnert, traurig zu sein.

Einen Einblick in die aktuelle Diskussion sowie einen Überblick (nebst Literaturliste) über die Geschichte der Melancholie bis zur Gegenwart gibt auch der Reader des Leipziger Reclam-Verlages. Lutz Walther, der Herausgeber des Studienbuches, macht in seinem Vorwort darauf aufmerksam, daß sich auf dem deutschen Buchmarkt gegenwärtig etwa dreihundert Titel zur "Depression" finden, daß aber diese medizinisch-psychologisch ausgerichteten Arbeiten selten eine Verbindung vom Krankheitsbild Depression zu einem kulturgeschichtlichen Melancholiebegriff suchten. Auch wenn Melancholie weitaus mehr sei als nur ein psychopathologischer Sachverhalt, so könne auch und gerade die Depressionsforschung, die mit ihren gängigen Erklärungen zu kurz greift, von der Kulturgeschichte lernen.

Neben vielbeachteten Klassikern der Melancholie-Forschung, die sich mit der traditionellen humoralpathologischen Deutung der "schwarzen Galle" als eines der vier Temperamente in der Antike beschäftigen ("Saturn und Melancholie" von Klibansky/Panofsky/Saxl) versammelt der breit angelegte, aber zuweilen etwas spröde wirkende Band u.a. auch Beiträge über ihre medizinisch-theologische Darstellung im Mittelalter (Schipperges), über Behandlungsmethoden der Renaissance (Starobinski), über das gesellschaftliche Phänomen der Melancholie im 18. und 19. Jahrhundert (Schings, Lepenies, Mauser, Földényi) und das mangelnde Interesse an ihrer Geschichte in der modernen Psychopathologie (Glatzel). Leider fehlt der auf dem Klappentext zitierte rumänische Essayist Émile Cioran (dieser fehlt allerdings auch im Lesebuch von Peter Sillem), für den das Mißverhältnis zwischen der Unendlichkeit der Welt und der als tragisch erfahrenen Endlichkeit des Lebens - ohne Ausweg oder ohne Aussicht auf Ewigkeit - ein ernster Grund zur Verzweiflung ist. Betrachtet man das Unglück aber "aus einer traumhaften Perspektive, wie sie in den melancholischen Zuständen vorkommt, so hört es auf, marternd zu sein". Welch ein Glück!

Titelbild

Peter Sillem (Hg.): Melancholie oder vom Glück, unglücklich zu sein. BUCH IST NICHT LIEFERBAR, VERGRIFFEN.
dtv Verlag, München 1997.
272 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3423124679

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Titelbild

Lutz Walther (Hg.): Melancholie.
Reclam Verlag, Leipzig 1999.
230 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3379016640

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