Der Mensch und seine Geschichten

Jonathan Gottschall über die evolutionären Hintergründe des Geschichtenerzählens

Von Katja MellmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Mellmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Etwa Mitte der 1990er-Jahre haben Literaturwissenschaftler begonnen, die allzu gewohnte Tatsache, dass es Dichtung einfach gibt, als erklärungsbedürftig anzusehen und aus der Großperspektive auf den Menschen als biologisches Wesen zu beleuchten. Seitdem ist eine Reihe von Werken erschienen, die die Entstehungsbedingungen von Literatur (beziehungsweise von Kunst und Ästhetik im Allgemeinen) im Verlauf der Evolution des Menschen erforschen und nach den Konsequenzen solcher literaturtheoretischer Explorationen für die wissenschaftliche Literaturbetrachtung fragen (siehe die Berichte in literaturkritik.de 12/2005 und 2/2009).

Um das Jahr 2012 sind besonders viele Publikationen in dieser neuen Richtung erschienen: Joseph Carroll, der mit zwei Büchern von 1995 und 2004 den Begriff des ,Literary Darwinism‘ prägte, hat nun unter dem Titel „Reading Human Nature. Literary Darwinism in Theory and Practice“ (2011) eine dritte Buchveröffentlichung zum Thema vorgelegt. Von Nancy Easterlin, durch mehrere Aufsatzpublikationen ebenfalls eine Vertreterin ,der ersten Stunde’, ist unter dem Titel „A Biocultural Approach to Literary Theory and Interpretation“ (2012) eine erste Monografie erschienen. Brian Boyd, der Autor des 500-Seiters „On the Origin of Stories“ (2009), hat sich in einem neuen Buch nun der Lyrik zugewandt („Why Lyrics Last“, 2012). Winfried Menninghaus und Stephen Davies haben mit „Wozu Kunst?“ (2011) und „The Artful Species“ (2012) zwei Monografien zur Evolutionären Ästhetik vorgelegt, in denen jeweils mehrere Seiten speziell der Literatur gewidmet sind.

Das hier zu rezensierende Buch „The Storytelling Animal. How Stories Make Us Human“ (2012) von Jonathan Gottschall unterscheidet sich von den genannten vor allem dadurch, dass es der äußeren Aufmachung und dem Schreibstil nach nicht eigentlich eine Fachmonografie, sondern eher eine Art Wissenschaftssachbuch für die breite Öffentlichkeit ist. Der Autor, durch mehrere Publikationen als Experte für Evolutionäre Literaturwissenschaft ausgewiesen (vergleiche die Literaturhinweise am Ende dieses Artikels), verzichtet darin auf steile Thesen, kleinteilige Auseinandersetzungen mit der Forschungssituation und eingehende methodologische Erörterungen und bietet stattdessen eine allgemeinverständliche Darstellung, in der das behandelte Thema durch zahlreiche Beispiele aus Kulturgeschichte, Literatur und eigener Erfahrungswelt anschaulich illustriert und didaktisch aufbereitet wird. Dem insgesamt erzählerischen Duktus des Textes entspricht das äußere Erscheinungsbild des Bandes, der durch viele Bilder und literarische Motti sowie durch die Kürze der einzelnen Kapitel ein Höchstmaß an Gefälligkeit und leichter Konsumierbarkeit zu erzielen sucht. Am Ende des Buches gibt Gottschall sogar eine Reihe von Hinweisen zur ,lebenspraktischen‘ Bedeutung seiner Befunde.

Gleichwohl fußt Gottschalls Darstellung durchwegs auf gründlicher Kenntnis der einschlägigen Forschungsbereiche, und der Autor erlaubt sich an keiner Stelle eine im pejorativen Sinne ,populärwissenschaftliche‘ Vereinfachung oder Verzerrung. Der in Form von Endnoten und einem Literaturverzeichnis eingerichtete wissenschaftliche Apparat des Buches macht die Studie außerdem für ein Fachpublikum anschlussfähig, und auch im Haupttext werden einzelne wichtige Forschungspositionen namentlich benannt und in einer angemessenen Form referiert. Die belletristischen Kapitelüberschriften und die langen Ausschmückungspassagen freilich erschweren einen schnellen Zugriff des Fachkollegen auf die in der derzeitigen Diskussion zentralen Punkte. Darum sei der Inhalt des Buches hier vor allem im Hinblick auf diese Anschlusspunkte für die Evolutionstheoretische Literaturwissenschaft rekapituliert.

Das erste Kapitel expliziert das Thema des Buches. Gottschall interessiert nicht nur, warum Homo Sapiens überhaupt Geschichten erzählt, sondern auch, warum dem Geschichtenerzählen eine so zentrale Bedeutung in der menschlichen Kultur zukommt. Dieses „Warum“ ist allerdings eher als ein „Dass“ gemeint, das heißt die folgenden Kapitel widmen sich eher dem ausführlichen Nachweis, dass das menschliche Leben in der Tat in vielen Aspekten durch ,Stories‘ bestimmt ist, als einer konsequenten Beantwortung der Warum-Frage. Zwar fragt Gottschall auch regelmäßig nach „Funktionen“ der von ihm beschriebenen Verhaltensweisen, will dies aber ausdrücklich nicht als Antwort auf die Frage nach der biologischen Funktion der jeweiligen Verhaltensweise, also nach ihrer evolutionären Entstehungsursache verstanden wissen. Welche von den beobachtbaren Verhaltenstendenzen jeweils als „Adaptationen“ im evolutionsbiologischen Sinne, also als Anpassungen an einen je spezifischen Selektionsdruck gelten können und welchen Verhaltensweisen wohl eher der Status evolutionärer Nebenprodukte zukommt, lässt Gottschall offen, diskutiert dieses Thema aber verschiedentlich und führt die konträren Forschungspositionen samt ihrer Argumente in aller Kürze auf.

Diese vorsichtige Zurückhaltung erspart ihm unter anderem, sich auf eine bestimmte Reihenfolge festzulegen, in der die beteiligten kognitiven Fähigkeiten evolutionär entstanden sein könnten. Ziel seiner Ausführungen ist also nicht, die Genese des Geschichtenerzählens als menschlicher Eigenschaft zur Darstellung zu bringen, er unternimmt vielmehr eine analytisch aufschlussreiche Parallelisierung verschiedener menschlicher Verhaltensweisen unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die menschliche Fähigkeit des ,Storytelling‘. Zu diesen miteinander parallelisierten Verhaltensweisen gehören insbesondere das kindliche Spiel (Kapitel 2-3), das Träumen (Kapitel 4) und das literarische ,Erzählen‘ (in einem weiten, gattungsübergreifenden Sinne von ,Dichtung‘, ,fiction‘ überhaupt).

Wie schon Boyd vor ihm betont auch Gottschall besonders den zentralen Stellenwert von negativ besetzten Emotionen im kindlichen Fantasiespiel, entwickelt diese Beobachtung nun allerdings systematisch weiter zu der expliziten These einer generellen „Problemstruktur“ von Geschichten, die – als Element einer universalen „story grammar“ – auch dafür verantwortlich sei, dass Literatur sich schwerpunktmäßig auf eine überschaubare Menge wiederkehrender Themen und Motive beschränke: eben auf diejenigen Motive und Themen, die für einen realweltlichen Selektionsdruck stehen und denen der kognitive Apparat des Menschen daher besondere Aufmerksamkeit entgegenbringt.

Auch das Träumen – das ebenfalls nicht zum ersten Mal mit der menschlichen Fiktionsfähigkeit in evolutionären Zusammenhang gebracht wird – gehorcht, wie Gottschall anhand mehrerer Studien belegt, grosso modo dieser Problemstruktur. Diese Beobachtung Gottschalls ist insofern interessant, als das Träumen auch bei zahlreichen anderen Säugetieren angelegt zu sein scheint, es sich also vermutlich um die evolutionär älteste Form der hier miteinander parallelisierten Manifestationen ,geschichtenförmiger‘ Kognition handelt. Der von Gottschall aufgewiesene Strukturparallelismus geht über die sonst übliche lose Assoziation von Fiktion und Träumen deutlich hinaus und legt eine vielversprechende Spur in eine bis dato noch praktisch unbekannte Entstehungsgeschichte.

In Kapitel 5 betont Gottschall besonders die Art und Weise, wie der menschliche Geist Geschichten herstellt: nämlich durch (recht wahlloses) Verknüpfen einzelner Elemente nach sinnhaften Verlaufsmustern. Auch das ist natürlich nicht neu, und über die Herkunft und genaue Beschaffenheit solcher Muster wurde andernorts schon detaillierter nachgedacht. Die Stärke von Gottschalls Darstellung liegt hier eher in der konsequenten Empirisierung dieser allgemeinen Vorstellung vom zerebralen Geschichtengenerator durch das aufschlussreiche Referat mehrerer Befunde aus der Psychopathologie (Schizophrenie, Split-Brain-Patienten, Konfabulation). Er nennt diesen Geschichtengenerator im Kopf scherzhaft den ,inneren Holmes‘, weil er wie Sherlock Holmes aus wenigen Indizien sofort komplette Geschichten zu spinnen vermag, wobei diese Geschichten, wie Gottschall ausgiebig betont, in der Regel sehr viel unzuverlässiger seien als die des fiktiven Masterminds.

Das sechste Kapitel ist den gesellschaftlichen Dimensionen des Erzählens gewidmet. Gottschall weist zum einen darauf hin, dass Kollektive sich maßgeblich über Geschichten – man könnte sagen: ,Große Narrationen‘ – regulieren, das heißt einen gemeinsam gepflegten und ,geglaubten‘ Schatz an solchen unzuverlässigen Geschichten ausbilden. Zum andern hebt er die Bedeutung moralischer Thematiken und die Omnipräsenz und Starrheit des Prinzips der poetischen Gerechtigkeit im fiktionalen Erzählen hervor. Als dritten Punkt spricht er die gemeinschaftsstiftende Qualität kollektiver Rezeption an, wie sie beispielsweise in der Versammlung um einen Geschichtenerzähler in vormodernen Zeiten oder mündlichen Kulturen und im Kinosaal auch heute noch gegeben sei.

Ob diese drei genannten Aspekte in irgendeinem systematischen Zusammenhang stehen, mag man bezweifeln. Dass Gottschall sie in einem Kapitel zusammenspannt, liegt vermutlich daran, dass im Hintergrund heimlich doch noch die Idee von der Adaptivität der Dichtung als soziales Kohäsionsmittel steht. Gottschall bekennt sich wohlweislich nicht zu dieser These, Dichtung habe den evolutionären Zweck, Gemeinschaften zusammenzubinden, und auch zu keiner anderen der derzeit virulenten, allesamt aber unzureichend begründeten Thesen von der Adaptivität der Künste (vergleiche die Kritik bei Mellmann 2010, 2012, Kramnik 2011 und Davies 2012), aber er kommt ganz offensichtlich aus dieser Tradition des Nachdenkens im Bereich der Evolutionstheoretischen Literaturwissenschaft, wie aus der Gliederung des Buches mehrfach ersichtlich wird. Um zu einer konzeptionell tragfähigen Gliederung vorzudringen, hätte er eine Gegenthese zum falschen Adaptationismus entwickeln müssen; Gottschall aber belässt es dabei, die theoretische Implikation seiner Ausführungen gewissenhaft zu verneinen und sich ihrer als eines heuristischen Darstellungsmodells dennoch zu bedienen. Das ist die größte Schwäche des Buches. Man kann Gottschalls Entscheidung, sich den als falsch erkannten Theorien nicht anzuschließen, gewiss nicht tadeln, aber er verzichtet leider zugleich darauf, selbst eine differenzierte These zu dieser nicht unerheblichen Frage zu entwickeln. Und nicht zuletzt muss man auch Sorge haben, ob diese falschen Theorien durch seine Darstellungsweise nicht doch unterschwellig weiterkolportiert werden.

Denn auch schon im Zusammenhang mit dem kindlichen Spielen und Erzählen (Kapitel 2-3) wird so einer (durchgestrichenen) „Funktion“ von Dichtung – nämlich dem Gehirntraining und dem Einüben kognitiver Fähigkeiten (speziell: dem Erlernen von Empathie) – sehr viel Bedeutung eingeräumt, ohne dass ultimate und proximate Ebene (das heißt evolutionäre Funktion/Entstehungsursache und aktuell mögliche Wirkung/Funktionalisierung) in Gottschalls Darstellung immer ausreichend voneinander unterschieden würden. Und so kann bei oberflächlicher Lektüre doch leicht der Eindruck entstehen, Homo Sapiens habe die Fähigkeit zum Erzählen, „weil“ Erzählungen eben zu so allerlei gut seien: zur Entwicklung moralischer Fähigkeiten, zur Stärkung der Gruppe, zur Intelligenzförderung … Das ist ein diffiziles Gebiet, und man kann es einem für das breite Publikum gedachten Buch nicht ankreiden, wenn es hier keinen ausgefeilten Gegenvorschlag entwirft. Aber das daraus entstehende Darstellungsproblem ist in Gottschalls Buch nicht optimal gelöst.

Die Annahme, dass Dichtung zu einem hohen Anteil für die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen genutzt wird, führt zu der Frage, wie stark Literatur ihre Leser beeinflussen, ,die Welt verändern‘ kann. Dieser Frage geht das siebte Kapitel nach, indem es erste Forschungsansätze aus der empirischen Literatur- und Medienwissenschaft bekannt macht. Die referierten Ergebnisse werden leider nicht alle in derselben Differenziertheit wiedergegeben, in der sie in der jeweiligen Forschung ermittelt wurden; zum Beispiel wird nicht unterschieden zwischen Lang- und Kurzzeitwirkungen und zwischen Ideen, expliziten Überzeugungen und Handlungsmotiven. Gottschall legt den Schwerpunkt auf die Beobachtung von Melanie Green und Timothy Brock, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Maß, zu dem ein Leser von einer Fiktion absorbiert ist, und dem Maß, zu dem er durch die in der Geschichte enthaltenen Informationen prägbar ist; – eine Studie, die den ganzen Forschungszweig in der Tat erst so richtig ins Rollen gebracht hat. Die weiteren Entwicklungen und Hypothesenverfeinerungen nachzuvollziehen wäre im Rahmen der populären Anlage von Gottschalls Buch wohl ohnehin nur sehr begrenzt möglich gewesen.

Die letzten beiden Kapitel bilden den am ehesten feuilletonistisch zu nennenden Teil des Buches, wobei dies hier kein Schimpfwort ist. Gottschall zeigt, wie auch individuelle Identität beständig über autobiografische ,Geschichten‘ von sich selbst hergestellt wird, und führt eine Reihe amüsanter Beispiele dafür auf, wie viel Unfug der unzuverlässige ,innere Holmes‘ dabei immer wieder anstellt(Kapitel 8). Zuletzt nimmt er Stellung gegen die kulturpessimistische Ansicht, dass das Erzählen oder zumindest das Romanelesen im Niedergang begriffen sei (Kapitel 9). Aus der anthropologischen Großperspektive macht er einsichtig, dass der Roman keine ewig gültige Form ist, und weist sinnreich auf verschiedene jüngere, sehr populäre Formen des ,Storytelling‘ hin, darunter die ,Faktion‘ oder Nonfiction verschiedener Fernsehformate, das Kino, den Popsong und – am ausführlichsten – auf moderne Computerspiele.

Fazit: Man wird in Gottschalls Buch nicht viel grundsätzlich Neues finden, aber eine Menge Altbekanntes in sehr einleuchtender und bisweilen auch innovativer Verknüpfung. Gottschalls Buch ist eine Art „Digest“, in dem eine überlegt getroffene Auswahl an heterogenen Forschungsergebnissen in suggestiver Weise arrangiert und weiterem Nachdenken über die evolutionären Hintergründe des Erzählens zur Verfügung gestellt wird. Ein anregendes, ein nicht überflüssiges Buch.

Literaturhinweise:

Boyd, Brian (2009): On the origin of stories. Evolution, cognition, and fiction. Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge/MA.

Boyd, Brian (2012): Why lyrics last. Evolution, cognition, and Shakespeare’s sonnets. Harvard University Press, Cambridge/MA.

Carroll, Joseph (1995): Evolution and Literary Theory. University of Missouri Press, Columbia.

Carroll, Joseph (2004): Literary Darwinism. Literature and the Human Animal. Routledge, Columbia.

Carroll, Joseph (2011): Reading human nature. Literary Darwinism in theory and practice. State University of New York Press, Albany.

Davies, Stephen (2012): The artful species. Aesthetics, art, and evolution. Oxford University Press, Oxford.

Easterlin, Nancy (2012): A biocultural approach to literary theory and interpretation. Johns Hopkins University Press, Baltimore.

Gottschall, Jonathan; Wilson, David Sloan (Hg.) (2005): The literary animal. Evolution and the nature of narrative. Northwestern University Press, Evanston.

Gottschall, Jonathan (2008): The rape of Troy. Evolution, violence, and the world of Homer. Cambridge University Press, Cambridge.

Gottschall, Jonathan (2008): Literature, science and a new Humanities. Palgrave Macmillan, New York.

Kramnick, Jonathan (2011): Against Literary Darwinism. In: Critical Inquiry 37 (2), S. 315–347.

Mellmann, Katja (2010): The multifunctionality of idle afternoons. Art and fiction in Boyd’s vision of evolution. In: JLTonline.de, http://www.jltonline.de/index.php/reviews/article/view/170/530, 09.03. 2010.

Mellmann, Katja (2012): Is storytelling a biological adaptation? Preliminary thoughts on how to pose that question. In: Carsten Gansel, Dirk Vanderbeke (Hg.): Telling Stories. Literature and Evolution (Spectrum Literaturwissenschaft 26). De Gruyter, Berlin & New York, S. 30-49.

Menninghaus, Winfried (2011): Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Suhrkamp, Berlin.

Titelbild

Jonathan Gottschall: The storytelling animal. How stories make us human.
Houghton Mifflin Harcourt, Boston 2012.
248 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-13: 9780547644813

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