Cry me a river – of blood

Über Alexis Jennis Roman „Die französische Kunst des Krieges“

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Victorien Salagnons Geschichte als Krieger beginnt im von den Nazis besetzten Frankreich. In der Schulzeit wird er vertraut mit Caesars Gallischem Krieg, militärischer Strenge, Jugendlagern unter kirchlicher Leitung und mit dem Kriegsspiel. Als die Résistance in Victoriens Leben tritt, ist es für ihn zum Soldaten nur ein kleiner Schritt.

Alexis Jenni unternimmt in „Die französische Kunst des Krieges“ eine 765 Seiten lange Reise durch die Kriegsgeschichte Frankreichs. Die wichtigen Aufenthalte Victoriens gibt es im Zweiten Weltkrieg, in Indochina, in Algerien, schließlich im heutigen Frankreich. In dieser Kriegsgeschichte vollzieht sich zugleich die Geschichte der Entwicklung Victoriens. Jedes zweite Kapitel, überschrieben mit „Roman“ (I, II,…VI), hat Victorien zur Hauptfigur, den Kriegsveteranen, der in der Gegenwart ein alter Mann ist und ein Maler. Er bringt dem unbenannten Ich-Erzähler aus den mit „Kommentar“ (I, II,…VII) benannten Kapiteln das Malen bei. Im Gegenzug schreibt dieser Victoriens Geschichte auf.

Es ist eine Geschichte des Grauens, der Entmenschlichung oder einer anderen Qualität von Menschwerdung. Eine Geschichte über Macht und Ohnmacht, in der die Macht, die in den alltäglichen Beziehungen entsteht und sich äußert, zwischen Menschen und Institutionen, nicht nur eine beschränkende und repressive Größe ist. Sie hat auch eine produktive Seite, bringt neue Verhaltensmuster hervor. Hinter der Handlung liest sich Jennis Text wie eine historische Analyse gesellschaftlicher Bedingungen in der Form eines Romans. Man fühlt sich nicht selten und ohne Grund an Foucault erinnert. Jenni verortet sich in einer Entwicklung, die fiktionale Texte mit Gedanken kritischer Theorie versetzt, wie dies Patricia Duncker vor beinahe zwanzig Jahren mit „Die Germanistin“ so ertragreich gelungen ist.

„Nie wieder Krieg…“ – eine bekannte Forderung, die ergänzt werden muss um den Zusatz „…im eigenen Land.“ Die USA, Deutschland, Frankreich, um nur drei Länder zu nennen, haben den Krieg ausgelagert, führen ihn in anderen Ländern. Jenni sieht in Frankreich auch Binnenkriege. Sie finden statt an der geografischen und sozialen Peripherie. Die Banlieues und Nicholas Sarkozys ‚Hochdruckreiniger‘ sind ein Ausdruck dieser Entwicklung. Victoriens ehemaliger Kampfgefährte, Kamerad Mariani, hat Indochina in die Banlieues verlegt und bekämpft dort mit einer paramilitärischen Gruppe sogenannte Ausländer. An einer Stelle in Jennis Roman lesen wir: „Man lehrt die Menschen nicht ungestraft Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wenn man sie ihnen anschließend verweigert.“

Sun Tsu, auf den Jenni sich wiederholt bezieht, hat vor 2.500 Jahren „Die Kunst des Krieges“ geschrieben, dreizehn Kapitel auf ungefähr sechzig Seiten. Dieses alte Strategiebuch erfreut sich heute einer gewissen Beliebtheit, weil es auch lehrt, wie man in Familie und Beruf als Sieger das Feld verlassen kann. Was Jenni zu einem Handlungsstrang veranlasst, in dem die Wirtschaft ein, mittlerweile bekannter, Kriegsschauplatz ist. Der Arbeitsmarkt ist kein Koordinierungsmechanismus mehr, sondern eine Kampfzone. Der Ich-Erzähler nutzt die TV-Berichterstattung über den Winter und dessen überraschende Effekte – besonders Schneefall ist hier zu nennen – um sich am Arbeitsplatz krank zu melden. Seine Freundin eifert ihm darin nach. Bald darauf wird der Ich-Erzähler entlassen und erfindet sich neu als Aussteiger.

Wir sehen, mit der Disziplin ist es heute nicht mehr weit her. Sie war zu Zeiten eine Form der Selbstregulierung: „Die stärkste Armee der Welt ließ sich ohne Widerstand auflösen, und begab sich anschließend selbst in Gefangenenlager. […] Ein Schnalzen mit den Fingern genügt: Man ist derart daran gewöhnt.“

Foucault ist schon länger tot, Jenni winkt aber auch hier mit dessen Schlüsseltexten. Die Selbstdisziplin macht heute nur noch den zivilisierten Diskurs aus, in Deutschland stärker als in Frankreich. Alexis Jenni hat an diesem Roman fünf Jahre gearbeitet. Es ist sein drittes vollendetes Manuskript, das erste, welches veröffentlicht wurde.

Titelbild

Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
765 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874029

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