Für eine Philosophie des Ernstes

Zum 225. Geburtstag von Arthur Schopenhauer

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arthur Schopenhauer ist ein singuläres Ereignis in der langen Geschichte der Philosophie. An Immanuel Kants Vernunftkritik und Johann Wolfgang Goethes Anschauung von der Natur anknüpfend, hat er die Philosophie in den Rang der Weltliteratur gehoben. Er hat die Philosophie des 19. Jahrhunderts maßgeblich erweitert und sie mit seiner eleganten und klaren Sprache aus ihrem akademischen Elfenbeinturm befreit. Das sollte ihm die Fachzunft nie ganz verzeihen und sie hat ihn denn auch geflissentlich ignoriert. Er seinerseits beschimpfte sie als Afterphilosophen und ihr Tun als Professorenphilosophie. Zum Gedenken an seinen 150. Todestag im Jahre 2010 ist eine grandiose Biografie von Robert Zimmer erschienen, die einen neuen und erfrischenden Blick auf Arthur Schopenhauer erlaubt und mit dem Klischee des misanthropischen Einzelgängers aufräumt, der sich lieber mit seinem Pudel als mit den Menschen unterhalten habe, und ihn als philosophischen Weltbürger beschreibt.

Am 22. Februar 1788, vor 225 Jahren, als Sohn eines angesehenen Danziger Kaufmanns geboren, verbrachte Schopenhauer die ersten Jahre seines Lebens in der fürsorglichen Obhut seiner Mutter Johanna, die später eine bekannte Schriftstellerin werden sollte und einen berühmten Salon in Weimar führte, in dem auch Goethe verkehrte. Die Erziehung des Knaben war praktisch ausgerichtet, er sollte in die Fußstapfen seines Vaters treten. Hierzu wurden ausgedehnte Reisen durch Europa unternommen, vor allem nach England und Frankreich, Schopenhauers Vater achtete sorgsam darauf, dass die Reisen einen Nutzen für seinen Sohn hatten. Er sollte als Kaufmannssohn die Welt kennenlernen . Schopenhauer wurde in England auch für mehrere Monate auf eine Internatsschule geschickt, und konnte somit ausgezeichnete Sprachkenntnisse und kulturelle Erfahrungen sammeln. Nach dem Umzug der Familie von Danzig nach Hamburg besuchte er die in Hamburger Kaufmannskreisen beliebte Privatschule des Dr. Runge. Hier wurden die Zöglinge auf ihre zukünftige Rolle als Handelsherren vorbereitet. Doch die Schule blieb nicht der einzige Ort des Lernens. Die literarisch hochgebildete Mutter gab ihrem Sohn zahlreiche Anregungen und die umfangreiche Privatbibliothek des Vaters bot zusätzliche Bildungsmöglichkeiten. Doch vor allem im Buch der Welt sollte Schopenhauer lesen. In seinem 17. Lebensjahr machte er eine prägende Erfahrung für sein ganzes Leben. Im südfranzösischen Toulon, einem Marinestützpunkt, erblickte er Galeerenhäftlinge, die an ihre Bänke geschmiedet waren: „Lässt sich eine schrecklichere Empfindung denken, wie die eines solchen Unglücklichen, während er an die Bank in der finsteren Galeere geschmiedet wird, von der ihn nichts wie der Tod mehr trennen kann.“ Schopenhauer hat im Rückblick den Anblick der Galeerenhäftlinge als sein metaphysiches Schlüsselerlebnis gedeutet: „In meinem 17ten Jahre ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte… mein Resultat war, dass diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens sein könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Qual sich zu weiden.“

Nach dem Tod des Vaters bot sich Schopenhauer, der in ein tiefes emotionales Loch gefallen war, dennoch die Gelegenheit, dem Joch des Kaufmannsleben zu entkommen. Auch seine Mutter baute sich ein neues Leben in Weimar auf. Schopenhauer ergriff allerdings von nun an Partei gegen sie, der er sogar die Schuld am Selbstmord seines Vaters gab. Er entfremdete sich zusehends von ihr und der offene Bruch mit ihr war endgültig. Schopenhauer studierte in Göttingen und wechselte nach zwei Semestern von der Medizin zur Philosophie. Danach studierte er in Berlin an der damals noch jungen Universität. Gegen Ende des Studiums begannen sich die Umrisse eines eigenen philosophischen Weltbildes abzuzeichnen. Schopenhauer studierte Kant, Fichte und Schelling. Sein Erbe ermöglichte ihm ein finanziell unabhängiges Leben, und er zog nach Abschluss der Studien nach Dresden, um hier sein philosophisches Hauptwerk zu entwickeln. Dieses sollte „Die Welt als Wille und Vorstellung“ werden, der Titel als philosophisches Programm. Es erschien bereits 1819.

Für Schopenhauer ist die gesamte Welt der Objekte eine Welt der Vorstellungen, und diese werden durch das Subjekt hervorgebracht. Schon in seiner Dissertation beschreibt Schopenhauer die Grundzüge seiner Philosophie, hier ganz getreuer Schüler Kants: „Alle unsere Vorstellungen, sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen.“ Nichts kann demnach Objekt sein, ohne dass es ein dazugehöriges Subjekt gibt, und alle Objekte sind untereinander durch eine gesetzmäßige Verbindung bestimmt. Nur mit dem Wollen und dem Willen hat es eine eigene Bedeutung. Der Mensch steht dem Wollen nicht wie einer normalen Vorstellung gegenüber, sondern erfährt sich selbst als wollend. Er erfährt sich so durch einen inneren Sinn, und so eröffnet sich im Wollen des Menschen ein besonderer Erkenntnisschacht. Er sollte sich als Zugang zu einer Wirklichkeit des Willens erweisen, die selbst nicht mehr Vorstellung ist. Schopenhauer bringt in seinem Hauptwerk die Welt auf zwei Begriffe, auf „Wille“ und „Vorstellung“. Während für Kant jenseits der erfahrbaren Welt das „Ding an sich“ nicht erkannt werden kann, erklärt Schopenhauer es als reinen Willen, erfahrbar durch den inneren Sinn des Menschen. Der Mensch erfährt die Wirklichkeit des Willens durch seinen Leib und seine Triebregungen. Der Wille ist unmittelbar erfahrbar, es öffnet sich ein Tunnel zu dem, was nicht mehr Vorstellung ist, räumlich und zeitlich geordnet, die „wahre Welt“ des blinden Wollens. „Als Subjekt des Wollens, so Schopenhauer, „bin ich ein höchst elendes Wesen und all unser Leiden besteht im Wollen. Das Wollen, Wünschen, Streben, Trachten, ist durchaus Endlichkeit, durchaus Tod und Qual.“ Der Leib ist der sichtbare Ausdruck dieser Realität, die tiefer liegt als die Welt der Vorstellungen. Schopenhauer bezieht östliche Weisheits- und Erlösungslehren von nun an in sein Denken ein. Er erkennt im Willen das verbindende Band aller Lebewesen. „Überhaupt aber sehen wir das Alles was ist nur Erscheinung von Willen ist, verkörperter Wille. Wir wissen aber dass alle unsere Qual nur aus dem Willen kommt, wir nur in ihm unselig sind. Der Wille also ist der Ursprung des Bösen und auch des Übels das nur für seine Erscheinung, den Leib, da ist: und der Wille ist auch der Ursprung der Welt.“ Damit war das Wort über den Ursprung ausgesagt, und Schopenhauer wird diese Welt und die Möglichkeiten des Daseins in ihr bis zu seinem Lebensende immer tiefer und umfassender beschreiben. Das geschieht in seiner Schriftensammlung „Parerga et Paralipomena“ ebenso wie in seinen berühmten „Aphorismen zur Lebensweisheit“, seinem geheimen zweiten Hauptwerk, das unübertroffen ist an Prägnanz, Klarheit und Weltklugheit. Schopenhauer selbst beschreibt die Lebensweisheit als Kunst, „das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen“. Die „Aphorismen“ sind nicht ohne Pessimismus geschrieben, doch sie zeigen einen gangbaren Weg durch die Welt auf, gleichzeitig sind sie große literarische Meisterwerke deutscher Sprache.

Schopenhauer ließ sich im Alter in Frankfurt nieder, und der Ruhm kam spät, zu spät, er nahm ihn gelassen zur Kenntnis. Die Universitäten haben ihn gemieden und er sie – bis auf ein paar Gastrollen hat er sich vom akademischen Betrieb ferngehalten, er beschrieb sich als „entsprungener Kaspar Hauser“ der Philosophie. „Meine Celebrität wächst wie eine Feuersbrunst“, notierte er zuletzt spöttisch, er sprach von der „Komödie seines Ruhms“. In dieser Zeit seines beginnenden Ruhms ist auch sein letztes Manuskriptbuch entstanden, das er 1852 begann und an dem er bis zu seinem Tode schrieb. Es ist sein philosophisches Testament, und der alte Denker hat hier die Früchte seiner regelmäßigen philosophischen Meditationen Tag für Tag zusammengetragen, ein Notizbuch mit 150 dicht beschriebenen Seiten. Schopenhauer gibt ihm den Namen „Senilia“. Es war für ihn eine geistige Arznei, die ihm das Alter erträglich, sogar angenehm gemacht hat. 2010 wurde dieses Manuskript in der Transkription Ernst Zieglers erstmals vollständig herausgegeben. In ihm finden sich Zitate, Reflexionen, Erinnerungen, psychologische Beobachtungen und wissenschaftliche Überlegungen, Tiraden gegen seine Gegner, und das sind vor allem die „Spaß-Philosophen” von den Universitäten, allen voran die „berühmten Drei“ Hegel, Schelling und Fichte. Ihnen setzte er eine „Philosophie des Ernstes“ gegenüber, er sah sich selbst in der legitimen Nachfolge Kants und in den Vertretern der Universitätsphilosophie nur die Verkünder der Katechismen der monotheistischen Glaubensgemeinschaften. Doch vor allem finden sich in diesem letzten Werk Gedanken über das Alter, die von ihrer Gültigkeit nichts verloren haben. In ihnen wird nicht die Vergangenheit beschworen, sondern Schopenhauer betont, wie wichtig es ist, sich an die Gegenwart zu halten. „Was gewesen ist, das ist nicht mehr; ist ebensowenig wie das, was nie gewesen ist. Aber alles, was ist, ist im nächsten Augenblick schon gewesen. Daher hat vor der bedeutendsten Vergangenheit die unbedeutendste Gegenwart die Wirklichkeit voraus; wodurch sie zu jener sich verhält wie etwas zu nichts.“ Jeder Augenblick des Lebens hat sein Recht, denn er ist ein unwiederbringbares Unikat. „Jedem Vorgang unseres Lebens gehört nur auf einen Augenblick das Ist; sodann für immer das War. Jeden Abend sind wir um einen Tag ärmer. Wir würden vielleicht beim Anblick dieses Ablaufens unserer kurzen Zeitspanne rasend werden; wenn nicht im tiefsten Grunde unseres Wesens ein heimliches Bewußtsein läge, daß uns der nie zu erschöpfende Born der Ewigkeit gehört, um immerdar die Zeit des Lebens daraus erneuern zu können.“ Im Rückblick des Alters fügt sich alles enger zusammen, nimmt Struktur und Ordnung an, nicht nur die Begebenheiten, sondern auch die in der Zeit agierenden Menschen. „Gegen das Ende des Lebens nun gar geht es wie gegen das Ende eines Maskenballs, wenn die Larven abgenommen werden. Man sieht jetzt, wer diejenigen, mit denen man, während seines Lebenslaufes, in Berührung gekommen war, eigentlich gewesen sind. Denn die Charaktere haben sich an den Tag gelegt, die Taten haben ihre Früchte getragen, die Leistungen ihre gerechte Würdigung erhalten, und alle Trugbilder sind zerfallen.“

Am 21. September 1860 starb der Philosoph, er hatte Tod und Unsterblichkeit zum Thema seines philosophischen Denkens gemacht, aber als gelehriger Schüler Kants respektierte er das, was er die „unüberschreitbare Grenze aller unserer metaphysischen Erfahrung“ nannte. Die letzte handschriftliche Notiz von ihm lautet lapidar: „Die Welt ist, und ist, wie Figura zeigt: ich möchte nur wißen, wer etwas davon hat.“ Er wünschte keine Grabinschrift. Die schwarze Granitplatte auf seinem Grab trägt nur seinen Namen.

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Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger.
Biografie.
dtv Verlag, München 2012.
320 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783423347501

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