Schicksalskette

Birgit Weyhes Graphic novel „Reigen“ zeigt Momentaufnahmen des 20. Jahrhunderts

Von Sigrun GalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrun Galter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Comickünstlerin Birgit Weyhe verfolgt in den zehn Kapiteln ihrer neuen Graphic novel den Weg einer Taufkette von 1915 bis 2011 und setzt dabei Schlüsselmomente des 20. Jahrhunderts eindrücklich und einfühlsam in Szene. Schützengrabenerfahrungen eines Soldaten im Ersten Weltkrieg, die Flucht einer Résistance-Kämpferin aus dem besetzten Frankreich, die verzweifelte Suche eines Soldaten nach seiner Familie im zerbombten Hamburg und das beginnende Wirtschaftswunder der deutschen Nachkriegszeit geraten dabei ebenso in den Blick wie die Bemühungen frankophoner Kanadier um Anerkennung ihrer Sprache und Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder der langsame politische Wandel in Kenia seit dem Erlangen der Unabhängigkeit 1963 bis zur Jahrtausendwende.

Was Weyhes „Reigen“ mit Schnitzlers Einakterzyklus gleichen Titels gemeinsam hat, ist auf den ersten Blick das Strukturprinzip einer kreisförmig geschlossenen Verkettung einzelner Lebensgeschichten. Tatsächlich aber funktioniert diese Graphic novel weniger wie ein Reigen, sondern eher nach dem Modell einer Stafette, da ein Objekt von Person zu Person weitergegeben wird. So bildet die Taufkette das Bindeglied zwischen zehn in sich geschlossenen Geschichten und verknüpft dabei unterschiedliche Zeiten und Orte. In jeder der Episoden kommt es in einem schicksalshaften Moment im Leben des einen Protagonisten zu einer zufälligen, nicht immer bewusst wahrgenommenen Begegnung mit dem nächsten Protagonisten, die darin gipfelt, dass die Kette den Besitzer wechselt – als Geschenk, als Ware, als Fundstück oder als Diebesgut. Die Episodenfolge beginnt bei der Frankokanadierin Marie Boivin, die ihrer Enkeltochter in Montréal davon erzählt, wie sie ihrem Ehemann 1915 eine Taufkette als Glückbringer an die Kriegsfront mitgegeben hat. Es folgen Stationen der Kette in Belgien, Frankreich, Deutschland, Kenia, bis schließlich in der achten Episode Marie Boivins Enkeltochter 2004 auf einem Straßenmarkt in Kenia eben diese Kette kauft – ohne zu wissen, dass es sich um ihr eigenes Familienerbstück handelt. Obwohl sich bereits hier der Kreis geschlossen hat, erzählt die Graphic novel den Weg der Kette weiter, bis diese wieder nach Montréal gelangt, und zwar zu der nach Marie Boivin benannten Urenkelin. Der Kontingenz der Verkettung entspricht, dass diese den Akteuren selbst verborgen bleibt.

Die schwarz-weiß gehaltene Graphic novel erzählt überwiegend mit bewusst vereinfachenden, scheinbar naiven Federzeichnungen. Nur an wenigen, für die Figuren emotional extrem aufgeladenen Stellen geht Weyhe zu einer expressiven, beinahe abstrakten Tuschmalerei über, die an künstlerische Vorbilder wie Alfred Kubin, Marlene Dumas oder den Comiczeichner Jacques Tardi erinnert. Diese Darstellungsweise wählt sie für einzelne Panels, in denen die Erzählung zur Innensicht der Protagonisten wechselt, sowie für zwei eindrucksvoll gestaltete Doppelseiten, in denen Yves Boivin den Schützengrabenkrieg als Aneinanderreihung unzähliger, sich wiederholender traumatischer Momente erlebt.

Das eigentliche Vergleichsmoment in Bezug auf Schnitzlers „Reigen“ liegt im kulturdiagnostischen Potenzial der beiden Werke. Am 26. Februar 1897 schrieb Schnitzler in einem Brief an Olga Waissnix, dass sein Theaterstück „nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Theil unsrer Cultur eigentümlich beleuchten würde“ – nach der einhelligen Meinung heutiger Interpreten eine vollkommen zutreffende Einschätzung. Weyhes Graphic novel folgt einem ähnlichen Programm, konzentriert sich aber nicht auf eine einzige historische Konstellation, sondern bietet Stichproben eines ganzen Jahrhunderts. Neben großen geschichtlichen Zäsuren geht sie dabei auch unaufdringlich auf Themen wie Alterseinsamkeit, Familienkonflikte, Geschlechterverhältnisse und Homosexualität ein. Anders als bei Schnitzler sind die Protagonisten hier keine Typen. Obwohl die Biografien der Protagonisten exemplarisch für historische Situationen stehen, entwirft Weyhe in den kurzen Episoden individuelle Porträts, in denen auch kleine Eigenheiten der Figuren, wie zum Beispiel der Zahlentick einer Rentnerin, ihren Raum erhalten. Die Verbindung von sensiblen Detailbeobachtungen und narrativ klug verdichteten Situationen zeichnet Birgit Weyhes „Reigen“ als einen erzählerisch und ästhetisch überzeugenden Beitrag zur Arbeit am kulturellen Gedächtnis des 20. Jahrhunderts aus.

Titelbild

Birgit Weyhe: Reigen. Eine Erzählung in zehn Kapiteln.
avant-verlag, Berlin 2011.
187 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783939080572

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