Veränderte Lebensbedingungen in der Moderne

Über Michael Cunninghams Roman „In die Nacht hinein“

Von Angela KrewaniRSS-Newsfeed neuer Artikel von Angela Krewani

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Harris, halbwegs erfolgreicher Kunsthändler in Manhattan, wohnhaft in Soho, bewegt sich in der Szene erfolgreicher Künstler und kunstinteressierter Reicher. Sein Verhältnis zu beiden ist ein ironisch distanziertes, das eine exakte Wahrnehmung der Idiosynkrasien seiner Klientel erlaubt und Peter ein sicheres Navigieren durch die New Yorker Kunstszene erlaubt.

Mit Ankunft des jüngeren Bruders seiner Frau Rebecca, der äußerlich ein Ebenbild der ehemals jungen Rebecca zu sein scheint, verändert sich Peters Verhältnis zu seiner Frau wie auch der Kunstwelt – beide lösen in ihm Melancholie und Verunsicherung aus.

Mit deutlicher intertextueller Referenz auf Thomas Manns Erzählung „Tod in Venedig“ fokussiert Cunningham seine Figur des alternden Kunsthändlers, dessen Langeweile, Depression und Lebensüberdruss. Gleichzeitig entfaltet sich entlang der literarischen Referenzen ein Diskurs über Kunst und Ästhetik, der die New Yorker Szene mit einer imaginären Ästhetik des ausgehenden 19. Jahrhunderts und dessen Hommage an die Schönheit gegenüberstellt. Allerdings verfällt der Text nicht in eine Gegenüberstellung traditioneller Kunst und
Avantgarde, die zum Nachteil der Avantgarde ausfiele, sondern er baut analog zum distanzierten Weltverhältnis seiner Figur eine ironisierende Reminiszenz an die Vorlage auf. Natürlich ist in der Kunst keine Rückkehr zum ästhetisch Schönen und handwerklich gekonnten möglich. Nur müssen es in der zeitgenössischen Kunst wirklich, so sinniert Peter, die schäbigen Reste eines Teppichbodens und alte Spanholzplatten sein, die in Galerien, Museen und Privathäusern reicher, kunstferner Sammler nobilitiert werden. Sinnbild für die unmögliche Sehnsucht nach Schönheit und handwerklicher Vollkommenheit in der Avantgarde wird im Roman die antikisierende Vase eines Newcomers, die einerseits mit traditionellen, überzogenen Formen lockt, andererseits großflächig mit kleingedruckten, kaum wahrnehmbaren Obszönitäten beschrieben ist, die zielgenau den Eindruck ästhetischer Vollkommenheit zu zerstören suchen.

Ein ähnliches doppelt kodiertes Verhältnis nimmt Peter zum jüngeren Bruder seiner Frau, Missy, ein. Angezogen von dem jungen Mann aufgrund seiner Ähnlichkeit mit der Schwester steigert sich Peter in eine homoerotische Faszination für den jungen Mann, die in einem Kuss gipfelt und Fantasien der gemeinsamen Flucht generiert. Doch ähnlich wie die obszönen Inschriften auf der handwerklich perfekten Vase wird Peter durch das Objekt seiner Begierde in das zeitgenössische Manhattan zurück katapultiert. Die homoerotische Inszenierung entpuppt sich als krudes Eigeninteresse des Bruders zur Tarnung seiner Drogensucht.

In gleicher Weise wie sein Roman „Die Stunden“, der Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ als Referenzraum eröffnet, arbeitet „In die Nacht hinein“ mit Thomas Manns Erzählung über Jugend, Tod und Verfall. In beiden Fällen jedoch sind die Referenztexte keine reine Dekoration oder ein Gestus auf vorgeblichen Tiefgang sie markieren demgegenüber eine deutliche Differenz zum historischen Text. Cunninhams Texte verweisen auf die veränderten Lebensbedingungen in der Moderne und vermerken präzise die veränderten alltäglichen und psychologischen Bedingungen. Demnach zieht Peter dann auch andere Konsequenzen als Thomas Manns Schöngeist, dem nur noch der Tod bleibt.

Titelbild

Michael Cunningham: In die Nacht hinein. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt.
Luchterhand Literaturverlag, München 2010.
315 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873534

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