Dämonie und Euphemie

Martin von Koppenfels über Jonathan Littell, infame Erzähler und unerwünschte Identifizierungsstrategien

Von Niels PenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Penke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ (französisch „Les Bienvaillantes“, 2006) kennt, weiß um die Zumutung, die dieser Roman bedeutet. Über 1.300 Seiten die Stimme eines SS-Mannes im Kopf zu haben: Russland-Feldzug, Babi Jar, Warschau, Stalingrad und Auschwitz durch seine Augen, mit seinen Gedanken und seiner Sprache. Vernichtungskrieg und Holocaust aus Täterperspektive. Einer fiktiven zwar, aber das Problem das bei der Lektüre die hauptsächliche Zumutung bedeutet, wird dadurch kaum berührt: die Identifizierung mit dem erzählenden Protagonisten. Ich-Romane fordern heraus, dass sich Leser und Leserin mit dem, was da spricht, identifizieren, sich einlassen, teilhaben. Lesen, gerade auf lange Romandistanzen, heißt einlassen – und birgt die Gefahr der „Kontamination“, die in Littells Fall eine besonders unerwünschte ist.

Genau dies scheint einige der schärfsten Reaktionen auf „Die Wohlgesinnten“ zu begründen, wie Martin von Koppenfels in seinem Großessay anhand einiger deutscher und französischer Beispiele aufzeigt: das Unbehagen, trotz aller willentlichen Abwehr in den Text und seinen Erzähler verstrickt zu werden. Koppenfels verwendet dafür den über Sigmund Freud vermittelten Begriff Identifizierung, der sowohl die „unbewusste Dimension der lesenden Beziehung“ als auch die „libidinöse Seite des Geschehens“ mitdenkt, worin schließlich die befürchtete „Gefahr“ von Littells Roman besteht: der „Möglichkeit einer bleibenden Veränderung des Subjekts durch die Lektüre“.

Diese „Identifikationsangst“ vor möglichen Schäden durch die „temporäre Identifizierung“ mit einem SS-Mann sollte aber gerade professionelle Leser nicht schrecken, denn lesend sind schon viele zu Zauberschülern, Selbstmördern oder Tieren geworden, ohne dass sie alle dadurch tiefgreifende Veränderungen erfahren hätten. Es gibt gewiss Szenen und Bilder, die man, einmal gesehen oder gelesen, nie wieder loswird, aber das geschieht nur bedingt abhängig davon, welche konkrete Stimme sie ausspricht – die Stimme der eigenen Erinnerung ist immer eine andere.

Koppenfels benennt die Regulierung von Identifizierungen als Funktion und Leistung von Kultur und widerspricht damit der von einigen Kritikern gefürchteten „totalen Identifizierung“. Einer partiellen – und differenzierten – Identifizierung hingegen gesteht er eine aufklärende Funktion zu. Damit entscheidet letztlich die Ausgangsdisposition des lesenden Subjekts über die Wirkung und das Gefahrenpotential des Romans – wer den fetischisierten SS-Männern trotz ihrer Attraktivität aufgrund bestimmter Einsichten nichts abgewinnen kann und indifferenten Haltungen ohnehin argwöhnisch gegenübersteht, wird auch Aue und seiner Verführungsrhetorik nicht einfach so verfallen. Begründete Angst hingegen hat jener Leser-Typus, der merkt, dass er Aue „ähnlicher ist, als er wahrhaben möchte“, und sich daher argumentlos gegen die Nähe selbst eines fiktiven Tätercharakters sträubt.

Ein weiteres zentrales Moment der Kritik an Littell berührt die allgemeinere Frage nach der Legitimität des Romans – inwieweit auch moralisch provokanten und potentiell verletzenden Täterperspektiven jener „Freiraum des Fiktiven“ zuzusprechen ist, den Kunst für sich beansprucht? Ist Littell, wie Charlotte Lacoste meint, „literarischer Revisionismus“ vorzuwerfen, weil sie Aues Ansichten und Vorlieben auf seinen Urheber überträgt? Auf die Frage nach dem Warum des Romans gibt es bei Littell zwei Antworten. Koppenfels zeigt, wie Littell sich hier auf Imre Kertész bezieht, dessen Versuche, einen Täterroman zu schreiben, eine Lücke füllen sollten, weil „die Henker“ und die Täter im stillen Einverständnis mit ihrer Pflichterfüllung – schweigen. Littells tief in die Organisation des Massenmords verstrickter Protagonist stellt in dieser Hinsicht einen idealen Gesamtzeugen dar, der, obwohl er sich nur höchstselten die eigenen Hände schmutzig macht, doch aufzeigt, wie perfekt die genozidale Maschinerie doch lief, wenn jedes Rädchen seinen stummen Beitrag zum großen Ganzen leistete – und die letztliche „Tat“ nur als Kollektivleistung zu denken ist.

Der Ich-Perspektive spricht Littell eine entlastende Funktion für sich als Autor zu, da das erzählende Ich und der Text identisch sind; es gibt in dieser geschlossenen Perspektive keinen unbestimmten Leerraum, keinen „Rand zur Repräsentation einer ethisch und ästhetisch zurechnungsfähigen Instanz jenseits des Textes“. Eine andere Fokalisierung hätte eine Zwischeninstanz eingeschaltet und den textinternen Kommentar ermöglicht, was wiederum einen anderen Grad der Verpflichtung für den Autor bedeutet hätte. Als die großen Vorbilder für diesen Erzählertypus, der sich als „infames Ich“ zu erkennen gibt und mit seiner Strategie der „captatio malevolentiae“ sich bemüht, den Leser dennoch zu für sich zu „gewinnen“, führt Koppenfels Dostojewski und Celine an. Wobei der zweite bereits eine verschärfte Version des ersten darstellt; Celine schreibt als ostentativer Antisemit eine eigene Prosa des Täters, die das lesende Subjekt „kontaminiert“ und die „Identifizierung mit dem Angreifer“ auf unangenehme Weise provoziert.

Koppenfels beschreibt für Littells Roman eine vierfache Funktion der Infamie, die am Ende des Romans aus dem Täterbericht eine Opfererzählung macht, so dass auch er, Aue, der Profiteur und Mitorganisator des Massenmords als ein verständnisheischendes Opfer der Verhältnisse dasteht. Voller Schicksalspathos behauptet dieses Ich, seiner (Fremd-)Bestimmung mit der einzig möglichen Notwendigkeit gefolgt zu sein und gleicht darin den realen Tätern, die eine Symmetrie von Täter- und Opferposition behauptet haben: wer auf welcher Seite stand, lag außerhalb individueller Beeinflussung. Aue, der sich als über weite Strecken als „Voyeur mit schlechtem Gewissen“ inszeniert, betreibt genau diese Verkehrung von Täter- und Opferrolle, da er sich der Eigenmächtigkeit entbindet. In der Beurteilung einer solchen Erzählerstimme brechen sich zwei populäre Deutungsmodelle; die auf Hanna Ahrendt zurückgehende These von der „Banalität des Bösen“ und die gegenläufige Annahme dämonischer Verführer, über die der Nationalsozialismus erst wirkungsmächtig werden konnte. Aue ist beides. Banaler Schreibtischtäter und Dämon, der als scheinbar mythischer Wiedergänger und vermeintlich tragische Gestalt seine Mutter ermordet und die eigene Zwillingsschwester begehrt. Die starken Bezüge zur griechischen Tragödie gehen jedoch, trotz vieler Windungen und Bemühungen Littells, nicht auf. Littells „ehrgeizigster Anspruch“ sei, „die Erzählung von der Katastrophe des 20. Jahrhunderts wieder mit dem Tragischen in Verbindung zu bringen“. Ein Anspruch, der nicht einzulösen ist, eben weil das Wissen um die Gemachtheit von Kultur und Geschichte im 21. Jahrhundert ein anderes ist und die handlungsbestimmenden Mächte keine Schicksal spinnenden und Rachegöttinnen aussendenden jenseitigen Entitäten sind.

Die „Wohlgesinnten“, die titelgebenden Eumeniden, verweisen zuletzt, so Koppenfels, auf die Sprache. Bereits in der Rede von den Eumeniden verbänden sich Dämonisierung und Euphemismus, die sich auch auf einer zentralen Diskursebene des Romans träfen – die euphemistische Lügensprache des Nationalsozialismus, die im französischen Originaltext in Form von Barbarismen permanent auf die „Sphäre der Toten, vor allem der gewaltsam Verstorbenen“ verweist. So ist die deutsche Sprache der „schwarze Peter“, der jeden „Sprecher des Deutschen mit den Tätern identifiziert“. Und – da die traumatischen Erinnerungen weder von den Wörtern gelöst noch der „Übergang auf die Opferseite“ jemals vollzogen werden kann – bleibt er, „wo er ist.“

Martin von Koppelfels’ Essay besticht durch die Vielfalt der auf sehr knappen Raum eröffneten Ansätze, die Littell, seinen Roman und die Kritikformen diskursiv erschließen und mit gegenwärtiger Lese- und Emotionsforschung sowie Geschichts- und Erinnerungspolitik kontextualisieren. Manche dieser Spuren hätten gerne mehr Platz einnehmen können, stellenweise auch gewiss weiterer Ausführung bedurft – aber es liegt im Wesen des Essays, keinen Ansprüchen auf Vollständigkeit genügen zu müssen.

Titelbild

Martin von Koppenfels: Schwarzer Peter. Der Fall Littell, die Leser und die Täter.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
108 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311756

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