„Polit-Infantilismus“ und „Akrobat seines eigenen Ruhms“

Die Tagebücher von Hans Werner Richter sind eine wichtige Quelle zur literarischen Szene Ende der 1960er-Jahre

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Mutter aller Literaturgruppen: die Gruppe 47. Dabei wollte sie eigentlich gar keine richtige, feste Gruppe werden. Angefangen hat es 1944, als Hans Werner Richter und Alfred Andersch die Zeitschrift „Der Ruf“ gründeten, nachdem sie in amerikanischen Kriegsgefangenenlagern ein bisschen Demokratie gelernt hatten. Daraus entstand nach dem Krieg die Idee, dass man sich regelmäßig treffen sollte, um nach der Nazizeit eine demokratische und lebendige Literatur zu fördern. Im September 1947 war das erste Treffen am Allgäuer Bannwaldsee.

Schnell kristallisierte sich dann das Setting heraus: Richter lud die Teilnehmer ein, und zwar, ganz nach seinem eigenen Ermessen, ein Autor liest vor, die anderen anwesenden Autoren und die Kritiker kritisierten ihn, und der Autor durfte nichts dazu sagen, durfte sich nicht verteidigen, durfte nicht erklären. Dabei waren später dann auch die Starkritiker Deutschlands wie Walter Jens, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki, die nach und nach die Szene beherrschten. Dass wichtige Autoren wie Arno Schmidt (der einmal spottete: „Muss man bei der Gruppe 47 auch singen oder braucht man nur nackt vorzulesen?“) oder Wolfgang Koeppen nie eingeladen wurden oder nicht kamen, dass Exilanten wie Albert Vigoleis Thelen, Hermann Kesten oder Hans Sahl nie richtig dazugehörten (Richter schreibt zu Kestens und Sahls Teilnahme: „Beide kamen mit der Mentalität der zwanziger Jahre, beide vertrugen keine Kritik, beide waren von empfindsamer, törichter Eitelkeit“), das gehört ebenso zur Geschichte der Gruppe 47 wie das Hochhieven von Heinrich Böll oder Günter Grass auf den Sockel der neuen Literaturheroen – man wollte und musste damals eine Gegenposition zu den konservativen Autoren finden, die in den 1950er-Jahren die Literatur beherrschten.

Jetzt sind Tagebücher gefunden und publiziert worden, die einen sehr schönen Einblick in diese Szene geben, und zwar von Hans Werner Richter selbst. Schön daran ist, dass er sich nicht scheut, sehr, sehr deutlich zu werden. Hilde Domin bezeichnet er als „unerträgliches Wesen“, Martin Walser nennt er einen „gefährlichen Psychopathen“ und attestiert ihm „Polit-Infantilismus“, Alexander Kluge „intellektuelle Glätte und Kälte“, Günter Grass eine Art Allmachtswahn und warf ihm seine ständigen Alleingänge vor, weil der zu allem was zu sagen hatte: ein „Mittänzer, Vortänzer, Nachtänzer“. Peter Weiss fand er „naiv“ und Reinhard Lettau „verblendet“ und „unter dem Einfluß seiner hysterischen V. innerhalb eines Jahres politisch erblindet“, Handke sei der „Akrobat seines eigenen Ruhms“, und zu Ernst Bloch sagte Richter, sein „Prinzip Hoffnung“ habe „viel Unheil für die heutige Jugend angerichtet“. Zu Heinrich Böll sagt Richter ziemlich Widersprüchliches, mal kritisiert er sein „verquastes Denken, bramarbasierende Moral“ und nennt ihn einen „Mitläufer der Gewalt“, als Böll 1972 Ulrike Meinhof in Schutz nimmt – mal meint er, Böll liebe „das Geld und ist gegen die Geldwirtschaft“.

Leider bricht das Tagebuch 1972 ab, als Böll den Nobelpreis bekam (1951 hatte er den Preis der Gruppe bekommen). Auch die Literaturkritiker, die zu der Zeit die Gruppe längst für sich und ihren eigenen Ruhm instrumentalisiert hatten, bekommen ihr Fett weg: Richter schreibt über ihre Geldsucht, hält Reich-Ranicki für einen „großen Schwätzer“ und Joachim Kaiser für den „Schatten eines Snobs“, dabei sei er doch nur ein „Provinz-Feuilletonist“, Hans Mayer denunziert er als Homosexuellen. Interessanterweise ist seine Haltung zu ihnen aber mindestens ambivalent, denn andererseits bezeichnet er sie alle dann auch wieder als seine Freunde.

1966 beginnen diese hochspannenden, oft polemischen, manchmal auch bösen Aufzeichnungen, und es ist, als wenn Richter sie damals begonnen hat, um sich selbst über seine Position, über die Politik und die Literatur klarer zu werden. Es war nicht nur eine sehr bewegte Zeit, die Studenten wurden unruhig, in Israel kam es zum Krieg, in Vietnam wurde er immer schlimmer geführt (der Vietnamkrieg kommt übrigens nur sehr wenig vor in diesen Tagebüchern) – und Richter war Ende fünfzig, die Gruppe selbst begann auseinanderzufallen, die Streitereien nahmen zu, auch an Heftigkeit, und zwar nicht nur über Literatur, sondern vor allem über die Politik. Manche wie Grass mischten sich parteipolitisch ein und machten Werbung für die SPD, andere wie Enzensberger schwankten mal hierhin, mal dahin, waren mal linksradikal, mal bürgerlich. Außerdem wollte Richter auch wieder literarisch tätig werden – er war nie ein vielgelesener Autor gewesen, seine Gruppentätigkeit überschattete seine literarischen Bemühungen bei weitem.

Im Sommer 1966 gab es vor allem heftige Polemiken aus dem linken Lager, Hans Erich Nossack warf Richter „literarische Prostitution“ vor, und der aus dem Exil zurückgekehrte Emigrant Robert Neumann wetterte gegen die „Cliquenwirtschaft“ der Gruppe und gegen ihre politische Harmlosigkeit. Auch die ästhetisch fundierte Kritik Peter Handkes im April 1966 in Princeton schmerzte ihn sehr. Leider kann man diese Kontroversen nicht richtig nachverfolgen, weil ausführliche Zitate aus den Artikeln, Reden und Offenen Briefen fehlen.Man weiß oft nicht genau, worum es eigentlich ging, die Sachen sind aus dem Zusammenhang gerissen und bleiben so leider bruchstückhaft.

Die große Ideologisierung der Gesellschaft machte auch vor der Gruppe 47 nicht halt, und Richter litt sehr darunter. Für ihn ging es immer noch vor allem um die Literatur, nicht um die Veränderung der Gesellschaft. Und so schreibt er einmal: „Wie dumm sind eigentlich Schriftsteller, wenn sie politisch werden?“ Dabei bleibt er selbst immer realistisch und pragmatisch, anders als manche, die sich der RAF oder den K-Gruppen zuwandten oder wenigstens Sympathien bekundeten.

Richters Tagebücher, die er dem Politikwissenschaftler Arnulf Baring anvertraut hatte, in dessen Bibliothek man sie vor ein paar Jahren fand, sind ein grandioses zeitgeschichtliches Dokument mit einer Fülle von persönlichen und meist sehr treffenden Urteilen über wohl fast alle wichtigen Autoren der damaligen Zeit, sie sind eine Bericht aus dem Inneren des Literaturbetriebs und ein bewegender Versuch der Selbstvergewisserung in einer schwankenden Umbruchszeit.

Titelbild

Hans Werner Richter: Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972.
Herausgegeben von Dominik Geppert in Zusammenarbeit mit Nina Schnutz.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
383 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406638428

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