Austria erit in orbe ultima

Über Hannes Steins Liebeserklärung an den Geist des alten k. u. k. Österreich

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wien kurz nach der Jahrtausendwende. Neben Mondflug, Mikrowellenherd und russischen Elektroautos sind auch Liftboys, jiddisch sprechende Chassidim und Frakturschrift ganz und gar nicht ungewöhnlich. Länder tragen klangvolle Namen wie Galizien oder Grusinien, bezahlt wird mit Kronen, Cannabiskonsum ist legal, in allen Kinos wird stets regelmäßig die Wochenschau gezeigt. Sigmund Freud ist als Vater von Traumdeutung und Psychoanalyse bekannt und berühmt geworden, nur eine Theorie vom menschlichen Todestrieb hat er nie entwickelt, und während Franz Kafka ein nahezu unbeachteter Schriftsteller geblieben ist, ist es Anne Frank, die, eben erst im Jahr 1999, den Literaturnobelpreis gewonnen hat.

Wo zuletzt noch Florian Illies das flirrende, ungewisse Panorama des Jahres 1913 zeichnete, da biegt die Weltgeschichte bei Hannes Stein gewissermaßen in eine andere Richtung ab. Statt nach dem ersten, gescheiterten Attentatsversuch seinen Besuch in Sarajewo im Sommer 1914 fortzusetzen, ließ Erzherzog Franz Ferdinand seinen Wagen mit den Worten „I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus“ kehrt machen. Und mit ihm wendet sich das ganze Verhängnis des 20. Jahrhunderts. Als etwas fantasielos mag man es empfinden, dass in der von Stein entworfenen Alternativgeschichte zwischen 1914 und dem Jahr 2000 weltpolitisch recht Spektakuläres nicht geschehen zu sein scheint. Denn ohne das Attentat von Sarajewo sind natürlich auch dessen direkte oder indirekte Folgen allesamt ausgeblieben: beide Weltkriege und der Massenmord an den europäischen Juden, der Kalte Krieg ebenso wie der Aufstieg der Vereinigten Staaten. Selbst eine bedrohliche „Rückkehr der Religion“ in terroristischem Gewand bleibt in dieser Welt aus, in der die Präsenz von Religion in verschiedenster Gestalt doch völlig normal ist. Und was wurde aus den so verhinderten Großverbrechern des 20. Jahrhunderts? Lenin – ein zänkischer Journalist, von dem kaum einer je gehört hat. Hitler – Ansichtskartenmaler. Stalin – immerhin georgischer Nationaldichter.

Im Jahr 2000, in das Hannes Stein seine Leser entführt, bestehen die Kolonialreiche Europas nach wie vor, genauso wie seine Monarchien. Die republikanischen Gebilde des Kontinents – Frankreich, die Schweiz, San Marino – werden hingegen als Kuriosa wahrgenommen, die über kurz oder lang doch zur Monarchie zurückkehren werden. Davon sind jedenfalls die meisten der Protagonisten des Romans überzeugt. Undenkbar eine Welt, in der es anders wäre: Eine Welt, die nicht nur von Republiken geprägt wäre, sondern womöglich auch von Nationalismus, Kriegen und Völkermorden – sämtlich Vorstellungen, die sich in Steins Roman als therapiebedürftige Albträume einschleichen. Dennoch ist auch in der Welt der fortdauernden Donaumonarchie nicht alles eitel Sonnenschein. In Ostasien massakrieren Japaner Chinesen, was in Europa allerdings kaum Empörung hervorruft. Zwangssterilisationen von sogenannten Erbkranken und auch die Idee höher- und minderwertiger Menschenrassen scheinen eine Normalität zu sein, gegen die nurmehr die katholische Kirche protestiert (wofür sie sich wiederum vorhalten lassen muss, nicht mit der Zeit zu gehen). Und in Wien grassiert ein Antisemitismus, der sich nicht verschämt hinter Israelkritik versteckt, sondern in Gestalt einer Antisemitenpartei wenigstens in der Hauptstadt des Kaiserreichs Wahlerfolge feiert (mit an die real existierende FPÖ erinnernden Stimmenanteilen). Allerdings bleiben diese unangenehmen Aspekte für die Protagonisten des Romans, gerade auch für die jüdischen, ohne ernstliche Konsequenzen. Denn trotz aller Anfechtungen bleibt k. u. k. Österreich eine vielleicht schlampige, aber grundsätzlich humane, zugleich reaktionäre und fortschrittliche – mit einem Wort – „Hinternationale“. In Restaurants und Kaffeehäusern, bei literarischen Matineen, in der Oper genießt man das Leben. Wie entsetzlich die Vorstellung einer Welt, in der es dieses wunderbare Wien nicht gegeben haben könnte!

Beinahe hundert Jahre nach dem Attentat von Sarajewo können wir uns die Habsburgermonarchie kaum anders denn als angestaubtes und permanent am Rande zum Untergang balancierendes Relikt eines längst vergangenen christlichen Abendlandes vorstellen. Auch in Steins Roman marschiert das Kaiser-Königtum in der Arrièregarde eines Fortschritts, der ausgerechnet vom Nachbarn Preußen-Deutschland samt seiner Hohenzollern-Kaiserin verkörpert wird. Seit der ersten Mondlandung im Jahre 1945 haben die (Reichs-)Deutschen den Mond besiedelt, sie haben die Antarktis kolonisiert und an Weltgeltung dem britischen Empire längst den Rang abgelaufen (von den provinziellen Vereinigten Staaten gar nicht zu reden). Angesichts dieses Geltungsdrangs der wirtschaftlich wie wissenschaftlich führenden Nation mangelt es natürlich nicht an entsprechendem „Antigermanismus“. Der weit charmantere österreichische Beitrag zur reichsdeutschen Welthegemonie besteht dagegen im Erfolg der Kräuterlimonade Almdudler, Lieblingsgetränk der Menschheit, und dem der Sascha-Filmindustrie mit ihren großen Namen: Samuel Wilder, Walter Königstein, Romy Schneider, Christoph Waltz, Szczepan Szpilberg.

Und auch bei Stein steht das Reich Seiner Kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät Franz Joseph II. vor dem Untergang, ganz wie man es gewohnt ist. Allerdings droht das Unheil nicht vonseiten nationalistischer Fantasmen oder schwindender Integrationskraft der Monarchie im Vielvölkerstaat. Vielmehr verheißen deutsche Wissenschaftler und der k. u. k. Hofastronom David „Dudu“ Gottlieb aus der Mondstadt den Weltuntergang. Ein Komet rast unausweichlich auf die Erde zu.

Im Schatten dieser Gefahr erzählt Steins Roman eine beinahe klassisch zu nennende Dreiecksgeschichte. Oder ist diese doch nur Staffage seiner zum Buch gewordenen Liebeserklärung an jene realhistorisch verhinderten Potentiale der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie? Jedenfalls verliebt sich der russischstämmige Kunstgeschichtsstudent Alexej von Repin in Barbara Gottlieb, Gesellschaftsdame, stadtbekannte Schönheit und vernachlässigte Gattin eben jenes Hofastronomen, der zu Beginn des Romans berufsbedingt auf die Rückseite des Mondes reist. Um dieses Dreieck herum gruppiert sich eine Reihe mehr oder weniger liebevoll-kurioser Figuren, wie man sie sich wohl nur im habsburgischen Wien denken kann. Ein zynischer Fernsehphilosoph angeblich französisch-algerischer Herkunft, dem die vor sich hin modernde Monarchie ein Graus ist. Ein „gojischer“ Psychotherapeut und Hofrat ehrenhalber, der statt einer kleptomanischen Erzherzogin nun einen von grässlichen Albträumen verfolgten Ingenieur behandeln muss. Und natürlich Seine polyglotte Majestät, der Kaiser und König, dem aus der Gnade Gottes die Aufgabe zugefallen ist, seinen geliebten Völkern den Untergang der Welt ankündigen zu müssen.

Hannes Stein, der als Journalist unter anderem für die „Welt“ und die „Jüdische Allgemeine“ arbeitet und Mitglied des Netzwerks „Die Achse des Guten“ ist, wohnt seit 2007 in New York. Zuletzt erschien von ihm im Jahr 2011 ein Gesprächsband mit Norman Manea bei Matthes & Seitz. Mit „Der Komet“ legt er nun seinen ersten Roman vor, eine charmante Hommage an die untergegangene Habsburgermonarchie, deren multiethnische und multireligiöse Gesellschaft, die sich mit dem vergangenen Jahrhundert unheilvollerweise nicht arrangieren ließ. Mit leichtem Hang zur Besserwisserei begleitet uns sein Erzähler durch die Welt dieser an Möglichkeiten und auch an zaghaft angedeuteten Gefahren reichen Alternativgeschichte. Ein ausführlicher Glossar versorgt den Leser darüber hinaus mit Informationen zu wichtigen und weniger wichtigen Aspekten aus dem Umfeld der Realgeschichte.

Ob diese den Leser für sich einnehmende Gegenwelt durch den herannahenden Komet tatsächlich zum Untergang verurteilt ist? Es sei an dieser Stelle nicht verraten, ob es nicht vielleicht einem findigen reichsdeutschen Ingenieur doch noch gelingt, den Einschlag des „Unsterns“ – der übrigens für ein aus unserer Sicht symbolträchtiges Datum im September 2001 prognostiziert wird – abzuwenden. Nichtsdestoweniger gilt für das apokalyptische Wien eine heiter-melancholische Devise, die man sich für die Welt außerhalb des Buches auch wünschen mag: „Die Lage war hoffnungslos, aber nicht ernst.”

Titelbild

Hannes Stein: Der Komet. Roman.
Galiani Verlag, Köln 2013.
272 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783869710679

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