Bestiarien des Wissens

Ein Essay-Sammelband erkundet die Tierwelt vom Aasgeier bis zur Zecke

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Apis mellifera – der deutschsprachigen Öffentlichkeit auch als „Honigbiene“ bekannt – zählte schon für Aristoteles zu den politischen Lebewesen. In ihrer langen Faszinationsgeschichte wurden die aus Königin, Arbeiterinnen und Drohnen bestehenden Bienenstaaten häufig als politisch-zoologische Analogie für die Sozialstruktur menschlicher Gesellschaften eingesetzt. Doch seit der Frühen Neuzeit verunsicherte die Erkenntnis, dass es sich bei den Souveränen dieser Staaten um weibliche und bei deren stachellosen Vasallen um männliche Tiere handelt, die politische Bildlichkeit der Biene. Diese Irritation wurde vielfach bearbeitet: Während sich Biologen im späten 17. Jahrhundert darum bemühten, die Bienenkönigin als wenig royale Gebärmaschine umzudeuten, träumten Männerbündler im frühen 20. Jahrhundert von einer Verbindung zwischen straffer Ordnung und ‚bisexueller‘ Geschlechtsstruktur, wie sie die Biene vorbildlich bereitzustellen schien. Nicht zuletzt transportiert der populäre, bereits zu NS-Zeiten weit verbreitete Kinderroman „Biene Maja“ eine militärische Semantik des Existenzkampfes zwischen Bienen und Hornissen. – In der allzu aktuellen Bezeichnung unbenannter Flugkörper als „Drohnen“ hallt diese Bedeutung nach.

Aufgefächert wird diese politische Imaginationsgeschichte der Biene in einem Beitrag der Kulturwissenschaftlerin Claudia Bruns zum jüngst beim Fink Verlag erschienenen Sammelband „Zoologicon“. Im Untertitel als „kulturhistorisches Wörterbuch der Tiere“ bezeichnet, steht dieser Band im Kontext einer aktuellen Konjunktur des Tiers in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Ganze Forschungsverbünde wie das Nachwuchsnetzwerk „Cultural and Literary Animal Studies“ importieren derzeit die US-amerikanischen „animal studies“ nach Deutschland und richten ihre Aufmerksamkeit auf Schwellenbereiche von Natur und Kultur. Sie interessieren sich für eine Kultur- und Wissensgeschichte des menschlichen Umgangs mit dem Tier sowie für die Spiegelungen dieser Geschichte in den Künsten, vorzüglich Malerei, Film und Literatur.

Als ein ‚Ahnherr‘ dieser neuen Aufmerksamkeit für die wechselvollen Beziehungen des Menschen zu seinem tierischen ‚Anderen‘ kann der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho gelten. Seit Jahren beschäftigt er sich in zahlreichen, teils an entlegenen Orten publizierten Aufsätzen und Monografien mit der Kulturgeschichte des Tiers im Tierpark und Zirkus, mit Tieropfern und -zeremonien überhaupt. Anlässlich von Machos 60. Geburtstag ist nun der genannte Band „Zoologicon“, gemeinsam herausgegeben von den Kulturwissenschaftlern Christian Kassung und Jasmin Mersmann sowie dem Historiker Olaf Rader, als intellektuelles Geschenk an den Jubilar erschienen. In Essays und Erzählungen aus der Feder von Kollegen und Schülern versammeln sich hier 66 Tiere vom Aasgeier über den Greif oder die Purpurschnecke bis hin zum Wal, dem Werwolf und der Zecke. Als Zoo-logicon interessiert sich der Band für die historische Genese und kulturelle Funktion von Wissensordnungen, in denen reale oder imaginäre Tiere ihren Platz finden oder aus denen sie herausfallen. Als zoolog-icon präsentiert er sich in der Bebilderung mit Fotografien und ikonografischen Darstellungen aus griechischer Mythologie, abendländischer Kunstgeschichte oder Populärkultur, in denen die jeweils beschriebene Spezies vor Augen geführt wird.

Im gemeinsamen Interesse für Tiere jeder möglichen Gattung vereint der Band ein eindrucksvolles ‚Bestiarium‘ von Beiträgern, darunter Politologen wie Claus Leggewie, Kulturwissenschaftler wie Hartmut Böhme, Medienwissenschaftler wie Stefan Rieger, Literaturwissenschaftlerinnen wie Sigrid Weigel und Bettine Menke, Wissenschaftshistoriker wie Lorraine Daston und Hans-Jörg Rheinberger oder Schriftsteller wie Alexander Kluge. In stilistisch wie methodisch äußerst vielfältigen Zugängen porträtieren sie, basierend auf einer subjektiven Auswahl, ihr jeweiliges Lieblingstier. Große Tiere wie der Wal, Kleinstlebewesen wie das Augentierchen, wilde Bestien wie der Bär, Haustiere wie Hund und Katze, Nutztiere wie Huhn und Kuh, Leitfiguren der politischen Zoologie wie Wolf und Werwolf finden gleichermaßen Eingang in das „Zoologicon“ wie die biologischen Grenzgänger Bakterium und Virus oder imaginäre Tiere des Mythos (Chimäre und Meduse) und der Populärkultur (Godzilla, Pink Panther).

Entsprechend individuell sind die Zugänge, als vielseitig erweisen sich die von ihnen eingesetzten Methoden. So treffen Skizzen einer Kulturgeschichte der Tierimaginationen (Medusa) und der Praktiken des Umgangs mit Tieren (Auster, Wolf) auf die Wissenschaftsgeschichte der Mehlmotte, des Bakteriums oder des Glühwürmchens. Im Essay zur Ente findet sich in Gestalt von Mickey Mouse und 2CV die Populärkultur wieder, im Beitrag zur Kuh kommt die Konsumsphäre der „vache qui rit“ in den Blick. Unheimliche Wesen aus der Kinderliteratur bevölkern den Artikel zum Grüffelo; anhand des Greifs wird der Leser in Elemente der Wappenkunde eingeführt. Am Paradiesvogel wird die Tauglichkeit einer Evolutionästhetik nach Darwin erprobt; mit Blick auf Musils „Fliegenpapier“ misst der Beitrag zur Fliege den literarischen Aufenthaltsort eines ausweglos gefangenen Tiers aus. Perspektiven politischer Zoologie konturieren die Beiträge zur Katze und zum Werwolf ebenso wie die Ausführungen zum paradigmatischen (Un-)Tier Mensch. Abgerundet wird der Band durch einige literarische Erzählungen – interessanterweise aus der Feder renommierter Kulturtheoretiker – zum Silberfisch oder zur Schlange, welch letztere bei Christina von Braun die aus dem Paradies vertriebene Eva dazu auffordert, den schlaffen Herrgott im Himmel auf Trab zu bringen.

Wie dieser kurze Übersicht vielleicht deutlich macht, lassen sich die vielfältigen Beiträge zum Zoologicon in ihrer je besonderen Herangehensweise auf keinen methodischen Generalnenner bringen. Immer wieder überraschen sie mit ihrer Aufmerksamkeit für unerwartete Aspekte einer Tierfigur. So wird etwa der geradezu rituelle Umgang von Elefanten mit den Knochen toter Artgenossen beschrieben oder anekdotisch an berühmte Hunde erinnert, die wie der gelähmte Tubby bei einem Brückeneinsturz oder die Kosmonautin Laika beim historischen Flug der Sputnik zu Ehre und zugleich zu Tode kamen. Dabei wird der Ernst akademischer Forschungen häufig durch amüsante Abschweifungen ergänzt, und das „kulturhistorische Wörterbuch“ lässt sich lesen als Beitrag zur Vermessung der Tierwelt, aber auch als vergnügliches Sammelsurium unverkrampfter, bisweilen absichtlich unseriöser Ideen, Skizzen und Gedankenspiele.

Allerdings besteht in dieser bunten Vielfalt nicht nur die Stärke dieses Bandes, sondern auch seine Schwäche. Überzeugend sind vor allem jene Beiträge, die mehrere, einander ergänzende oder auch kontrastierende Perspektiven leitfüßig (nicht leichtfertig) miteinander verbinden und auf diese Weise einzelne Tiere als Orte der Überschneidung von heterogenen Wissensformationen und kulturellen Praktiken in den Blick rücken. Dazu gehört neben dem eingangs rekapitulierten Essay zur Biene etwa der zur Chimäre, wo eine fein mäandernde Linie von griechischer Mythologie über die Einbildungskraft der Renaissance und Züchtungspraktiken mit ‚Schiegen‘ bis hin zu Woody Allens Parodie auf die Chimäre gezogen wird.

Doch die subjektive Auswahl führt eben auch dazu, dass kulturgeschichtlich einschlägige, für ein solches „Wörterbuch“ unbedingt zu empfehlende Tiere wie Affe und Löwe keinen Eintrag finden, während Randspezies wie das Augentierchen ausführlich gewürdigt werden. Zudem dominieren im „Zoologicon“ – dem Untertitel entsprechend – die kulturgeschichtlichen Zugänge; im Vergleich zu ihnen kommen die Künste eindeutig zu kurz. Musik, Tanz und Theater und überraschenderweise auch das Kino fehlen weitgehend; die Literatur kommt mit Musils Fliegen oder Kleists Bären hin und wieder zur Sprache, fehlt aber ausgerechnet gerade bei Tieren wie dem Hund, der von E. T. A. Hoffmann bis Thomas Mann vielfach poetisch inszeniert worden ist. Unverständlich daher auch das Fehlen eines Eintrags zum Affen, der von Herder über Hauff, Poe und Kafka bis hin zu Coetzee die Schnittstelle von Literatur und Kulturtheorie bevölkert und den Menschen seit Jahrhunderten in seinen Grenzen irritiert hat.

Gelegentlich schleichen sich auch grobe Sachfehler in einzelne Essays, die spätestens bei einem gründlichen Lektorat hätten auffallen müssen. So im Essay zum Tiger: Anders als im entsprechenden Eintrag zum „Zoologicon“ behauptet wird, ist Kleists Josephe im „Erdbeben in (nicht: von) Chili“ kein Mann, sondern eine Frau, was für die Figurenkonstellation der Erzählung natürlich konstitutiv ist. Und Goethes „Märchen“, das 1795 im Umkreis der „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ erschien und in dem eine Schlange tragende Funktion erhält, ist durchaus nicht handlungs- oder gar textidentisch mit seiner Tiger-Erzählung „Novelle“, die erst 1828 erschien und folglich nicht schon 1796 den „Unterhaltungen“ hat beigefügt werden können.

Solcher Ärgernisse zum Trotz bleibt das „Zoologicon“ insgesamt ein so spannendes wie gut lesbares „Wörterbuch“ – öffnen doch zahlreiche Beiträge in skizzenhafter Form neue Horizonte, denen eine Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte der Tiere weiter nachgehen könnte.

Titelbild

Christian Kassung / Olaf B. Rader / Jasmin Mersmann (Hg.): Zoologicon. Ein kulturhistorisches Wörterbuch der Tiere.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2012.
491 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770554546

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch