Weltall und Körperzelle zugleich

Über Matthias Nawrats Roman „Wir zwei allein“

Von Dorothea GildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Gilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schlichtes Buch. Ich habe es aber gern gelesen. Und nun frage ich mich, warum? Keine großen Gedankensprünge oder Tauchgänge in die Tiefen der Seele. Kein breit angelegtes Soziogramm, in das sich die zwei Hauptpersonen einfügen könnten oder ausbrechen oder damit auseinandersetzen, wie auch immer. Da gibt es nicht viele Stimmen: Rudi ist der Kneipenwirt, Ecki der Gemüsehändler, Niko und Uli die Kumpel von … ja von wem denn nun? Von einem Ich ohne Namen, einem Erzähler, der sich nicht selbst benennt, und auch von den anderen nicht mit Namen angesprochen wird. Und dann ist da natürlich Theres, die mit ihm zu zweit allein sein wird. Inmitten der wenigen aber gestandenen Bauern, Wirte oder Händler, die für die Tradition stehen, das Währende. Und nur, weil es sie gibt, oder vielleicht gerade deshalb schwanken, zaudern oder zweifeln der Ich-Erzähler und seine Theres und tun sich schwer, sich zu binden. Sowohl beruflich als auch privat.

Es geht um eine Liebesgeschichte im Schwarzwald. Und diesmal nicht an einem fiktiven Ort. Freiburg ist der Schauplatz, von wo aus es in alle Himmelsrichtungen geht. In einem  Sprinter wird Obst und Gemüse ausgeliefert an Kunden in Hinterzarten, Gundelfingen, Elzach, Gottenheim und Bötzingen. Notierte man sich alle erwähnten Orte und Plätze, hätte man am Ende eine große Auswahl für den Urlaubsreiseplan. Und wenn man den Schwarzwald kennt, weil man dort lebt, dann hat man auf fast jeder Seite zumindest eine Bestätigung der eigenen Ortskenntnisse. Das Buch ist aber weit davon entfernt, eine bloße Heimatgeschichte zu sein. Die erwähnten Orte werden nicht beschrieben. Es ist nicht mehr als eine Erwähnung, wie in einem Reiseatlas.

„Wir zwei allein“ ist die Geschichte zweier junger Leute von heute. Sie wird dreißig, von ihm kann man es auch annehmen. Es geht um den Alltag, beschrieben als die „Mechanik des Tages“, in die man eintritt, weil man „früher wach ist als die Zeit“. Sie lernen sich in einer Kneipe kennen. Er hat studiert, tut es aber nicht mehr und arbeitet bei einem Gemüsehändler als Ausfahrer für Kundenaufträge. Er bringt „Kürbis für den Wächtle in Gottenheim, eine Salatkiste für den Bären in Kirchzarten…“ – und dies zu jeder Jahreszeit. Sie ist Schuhverkäuferin und malt in ihrer Freizeit kleine Bilder oder schraubt Figuren und Maschinen aus Metall- oder Kunststoffteilen zusammen. Dass sie ihren Beruf lieben würden, kann man von beiden nicht behaupten. Es ist vielmehr ein Job, denn „man muss ja von was leben, sagt der Holpinger“.

Da begegnen sich zwei zufällig in einer Kneipe, und ab diesem Zeitpunkt laufen ihre Leben eher nebeneinander her als aufeinander zu. Und obwohl sie ständig in Bewegung sind – er auf seinen vielen Fahrten mit dem Sprinter, sie verschwindet plötzlich für geraume Zeit in die Schweiz und nach Frankreich – erlebt der Leser sie als statisch, auf der Stelle tretend. Ihr gemeinsames Leben ist eher eine von vielen Möglichkeiten als Realität. „Wir sind die Größte aller Möglichkeiten, Theres.“

Die Tagträumereien beider schlagen sich folgerichtig im Konjunktiv nieder und verharren in der Passivität des Möglichen, aber nicht wirklich Gelebten. „Wir könnten zusammen ein Café eröffnen. Du könntest dort deine Bilder und Maschinen ausstellen. Ich könnte politische Abende veranstalten. Wir könnten deine Eltern überraschen und an einem Sonntag zum Essen anreisen.“ Was man doch alles könnte, und wie wenig dazu fehlt, es auch in der Tat zu tun. Ja, beide „könnten sich gemeinsam den Dingen stellen. Sie könnten Hand in Hand auf das Schlimmste warten und über das Schlimmste lachen.“ Dann tut es doch endlich, möchte man ihnen zurufen.

Als Theres von ihrer Reise, die eher eine Flucht als eine geplante Auszeit war, zurückkommt, ist sie schwanger. Und dieses unvorhergesehene, aber einschneidende Ereignis reißt sie zuerst in Antriebslosigkeit und Lethargie, um sie danach endlich handeln zu lassen. Ein uraltes Häuschen in Wieden wird gemietet und hergerichtet. Theres ist jetzt die treibende Kraft, die den Konjunktiv endlich abwirft und ganz real in den Baumarkt fährt, um dort literweise Wandfarbe zu kaufen, Raufasertapeten, Laminat und sonstige Pinsel und Tiegel. Wer sich fast endgültig in der Passivität niedergelassen hat, ist der Erzähler. Aber er nimmt die Situation an.

Er ist nicht der Vater des Kindes, er hat das Haus in Wieden nicht gesucht, aber er macht mit. Und warum? Weil „Liebe das ist, was wir dem Leben entgegenhalten können. … Liebe ist das Vergessen der eigenen Person.“ Und so sehen wir die beiden am Ende zufrieden in ihrem Häuschen in Wieden. „Wir sind zu einer Einheit in einem Land aus Zweisamkeiten geworden. … Wir sind Verlautbarungen einer Welt, die alle Worte schon verwendet hat.“ Und wir Leser hoffen, dass das wahre Leben nun beginnt, mit einem Kinderlachen als Verheißung der Zukunft.

Bleibt die Eingangsfrage. Warum liest man das Buch gerne? Eine Antwort könnte lauten: weil es sich an keiner Stelle aufdrängt. Es will eigentlich gar nichts mitteilen. Die zwei Figuren allein sind sich selbst genug. Auch der Titel, der einem anfangs ziemlich beliebig vorkommt, wird verständlich. An einer Stelle im Buch wird es deutlich: „Wir sind ein eigenes Ökosystem. Mit einem geschlossenen Kreislauf aus Gerüchen, Berührungen, Flüstereien. Das sind wir. Das unteilbare Ganze. Das Atom in einer Welt aus Molekülen. Wir sind uns Weltall und Körperzelle zugleich.“

Matthias Nawrat ist ein junger Autor, der nach dem Erscheinen dieses seines Erstlingsromans beim Bachmannpreis 2012 teilgenommen hat. Zwar mit einem anderen Text, aber er konnte die Jury überzeugen und den zweiten Preis (Kelag Preis) dafür gewinnen. Man kann also gespannt auf weitere Bücher sein.

Titelbild

Matthias Nawrat: Wir zwei allein. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, München 2012.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004973

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