Eine Rarität der Traumforschung

Christine Waldes und Annette Gerok-Reiters Sammelband zu Traum und Vision in der Vormoderne

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sigmund Freuds Traumdeutung markiert einen Einschnitt in der Beschäftigung mit dem Traum, der für historisch arbeitende Wissenschaften nicht immer von Vorteil ist. In der psychoanalytischen Perspektive, die den Traum als ein entschlüsseltes Phänomen begreift, gerät die Vergangenheit leicht zu einem Vorläuferstadium, das vor allem dann interessant wird, wenn darin ein roter Faden zu Freuds Traumdeutung führt. Die Traditionen der Beschäftigung mit dem Traum sind jedoch vielfältiger, als der psychoanalytische Zugriff ahnen lässt. Insofern ist der von Annette Gerok-Reiter und Christine Walde herausgegebene Band über „Traum und Vision in der Vormoderne“ ein willkommener Anlass, die Geschichte des Traums vor Freud zu betrachten.

Die Perspektiven, die berücksichtigt werden, sind vielfältig: Klassische Philologie, Judaistik, Byzantinistik, Islamistik, Philosophie, Theologie, Mediävistik, Medizingeschichte, Slavistik und Psychologie, um die wichtigsten zu nennen. Die Erweiterung des Themas um den Aspekt der Vision ist historisch betrachtet plausibel. In der Antike kennt man zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Traumerscheinung, Vision und Geistererscheinung (óneiros, hórama und phántasma), die an zwei Schnittstellen lokalisiert ist: zwischen Körper und Psyche sowie zwischen Religion und Medizin. Die Beschäftigung mit dem Traum entwickelt sich von solchen Unterscheidungen aus.

Die Beiträge des Bandes gruppieren sich in drei Teile: Der erste widmet sich der Darstellung der Traditionen der Antike, des Judentums, des Christentums und des Islams. Christine Walde führt in den griechisch-römischen Kontext ein, Andreas Lehnardt in das jüdische Verständnis des Traums, Bettina Krönung stellt die Bedeutung des Traums für das Christentum vom 3. bis 7. Jahrhundert vor. Susanne Kurz und Stefan Seit wiederum diskutieren die Rolle des Traums im lateinisch-christlichen Mittelalter und im sunnitischen Islam. Die Überblicksdarstellungen fokussieren auf zentrale Fragestellungen, auf die in allen Kulturen Antworten gesucht werden: auf die Deutbarkeit, mögliche mantische oder göttliche Qualitäten des Traums und die Frage, inwiefern sich Traum und Vision auf die Lebenswirklichkeit beziehen lassen. Walde konzentriert sich auf die antike Hermeneutik des Traums und das Deutungssystem von Artemidor, in dem Träume zu Wissen (um-)organisiert werden. Lehnardt zeigt anhand von Texten des 1. bis 7. Jahrhunderts die kritische Haltung gegenüber der Annahme, der Traum sei ein Medium göttlicher Offenbarung. Den Traum beeinflussen in diesen Deutungen vorwiegend irdische Aspekte, wenn nicht sogar dämonische, während die Vision im Wachzustand zumindest potentiell die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung enthält. Insgesamt, so Lehnardt, fällt der kritische, rationalistische Umgang mit Träumen auf, Träume verweisen auf das Subjekt (den Träumenden, den Traumdeuter) und weniger auf eine transzendente Ordnung.

Einen vergleichbaren Trend im Umgang mit Träumen und Visionen findet Bettina Krönung in der monastischen Literatur, insofern der visionären Ekstase mehr Zutrauen entgegengebracht wird als dem Traum. Sie scheint für spirituelle Transzendenzerfahrungen geeigneter zu sein als der Traum, wobei auch hier der skeptische Einwand wiederholt vorgetragen wird, Träume und Visionen dürften nicht das Ergebnis von dämonischen Einflüssen sein. Das Interesse an einer positiv verstandenen mystischen Ekstase, die sich sowohl im Wach- als auch im Schlafzustand ereignen kann, und an Formen eines entgrenzten Bewusstseins, bleibt gleichwohl erhalten. Die Frage, ob sich Gott den Menschen im Traum mitteilt, bleibt auch für das lateinische Mittelalter und den Islam eine grundsätzliche. In der christlichen Tradition überwiegt die Ambivalenz des Phänomens, während im Islam unter Berufung auf den Propheten Mohammed Träume eine Form der Offenbarung sein können, von den Gelehrten jedoch eine Hierarchisierung zwischen Offenbarungen im Wachbewusstsein und im Schlaf entwickelt wird.

Der zweite Teil mit dem Titel „Diskussionen“ vertieft Aspekte des Traums im christlichen Kontext bei Thomas von Aquin und Albertus Magnus (Notger Slenzka), als Motiv in isländischen Sagen (Hans Ulrich Schmid) sowie der Lyrik der höfische Periode (Rudolf Voss) und in der politischen Theorie (Ernst-Dieter Hehl). Neben der theologischen Dimension rückt damit ein weiterer Aspekt in den Vordergrund, der Umgang mit Träumen in der Volksreligion. Traum und Vision werden als Elemente der individuellen und sozialen Einbildungskraft vorgestellt. Was für den Philosophen oder Theologen ein ambivalentes Phänomen ist, zeigt sich in der Literatur in pragmatischer Eindeutigkeit: Träume sind Trugbilder oder besonders hervorgehobene Momente der Wirklichkeit wie Liebe oder Trancezustände. Sie haben eine narrative Funktion, die Konflikte zeichnet oder Handlungen reguliert.

Der dritte Teil, „Perspektiven“ überschrieben, hat es in einem Sammelband zur Vormoderne naturgemäß schwer. Hervorgehoben werden soll hier der Beitrag „Traum und Gesellschaft“ von Alfred Krovoza, der sich an Freud abarbeitet und aus der historischen Perspektive des Bandes nach den gesellschaftlichen Implikationen von Träumen fragt. Diese findet er mit Cornelius Castoriadis Konzept des Imaginären. Der Rückgriff auf Castoriadis öffnet die Arbeit an Träumen, indem das Imaginäre in Abgrenzung zum Symbolischen von vorne herein als uneinholbare und unhintergehbare Voraussetzung aller Tätigkeit verstanden wird und als sozial Imaginäres ebenso gesellschaftskonstituierend wie als radikal Imaginäres individualisierend wirkt. Das Imaginäre ist bei Castoriadis weder Nachahmung noch Abbildung, es ist Moment einer nicht näher bestimmbaren Schöpfung. Deshalb ist es auch nach Freud wichtig, darauf hinzuweisen, dass Träumen etwas Uneinholbares eignet. Die Beiträge von Wolfram Schmitt, Matthias Vollet und Rainer Goldt sind nicht weniger überzeugend wie jener von Krovoza, doch bilden sie eher Perspektiven der Vormoderne zwischen Descartes und dem 19. Jahrhundert ab.

Alle Beiträge zeigen, wie konzise der Band von den Herausgeberinnen geplant und wie stringent er in den einzelnen Artikeln mit Leben erfüllt worden ist. In seiner Breite und Genauigkeit ist er eine Rarität auf dem Gebiet kulturwissenschaftlicher Traumforschung. Entsprechend wenig ist zu kritisieren, auch wenn als kleiner Nachteil des Bandes angesichts der Breite des kulturwissenschaftlichen Zugriffs gelten muss, dass die Herausgeberinnen keine gegenseitigen Kommentierungen aufgenommen haben. In einem einleitenden Beitrag schließt Christine Walde das Fantastische als Gegenstand ausdrücklich aus. Dieser Schritt ist insofern bedauerlich, als literarische Texte im zweiten und dritten Teil des Buches durchaus als Untersuchungsgegenstände herangezogen worden sind und die fantastische Literatur seit der Antike die Schnittstelle zwischen Realität und Traum/Vision bespricht. So kann man bereits antike literarische Texte als Kommentare zur frühen Hermeneutik des Traums und insbesondere ihrer Kritik lesen.

Sie zeigen, etwa in Apuleius’ „Der goldene Esel“ (entstanden im 2. Jh. n. Chr.), wie Träume der Deutung nicht mehr zugänglich sind: In dem Roman sollen traumhafte Elemente eine hermeneutische Anstrengung auslösen. Diese scheitern aber am Fantastischen, weswegen man den Roman als satirische Darstellung des Versagens von Deutungen auffassen kann. Ein weiterer marginaler Kritikpunkt muss sich auf die Vernachlässigung der Bedeutung von Drogen beziehen. Verbindungen zum Traum oder Visionen sind hier durchaus geläufig, etwa wenn der Einsatz von Drogen mit traumhaften Darstellungen verbunden wird oder Visions- und Traumerfahrungen zum Ausgangspunkt literarischer Produktion werden. Hans Peter Dürr weist in dem Buch „Traumzeit“ auf Parallelen seit der Antike hin, so führt zum Beispiel in Lukians „Lucius oder der Esel“ der Einsatz einer besonderen Salbe bei sogenannten Nachtfahrenden zur Veränderung der Körpergestalt, die durch das traumhafte Bewusstsein des Rausches in Erfahrung gebracht wird. Dieser Einsatz von halluzinogenen Stoffen lässt sich bis in die Moderne verfolgen.

Titelbild

Annette Gerok-Reiter / Christine Walde (Hg.): Traum und Vision in der Vormoderne. Traditionen, Diskussionen, Perspektiven.
Akademie Verlag, Berlin 2011.
310 Seiten, 89,90 EUR.
ISBN-13: 9783050051871

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