Die Vorleser

Eine fünfzigstündige Edition sichert das Hör-Gedächtnis der deutschen Literatur

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir meinen die Dichter zu kennen, wenn wir sie lesen. Und haben doch nur stumme Buchstaben. Was aber geschieht, wenn die Schrift auf einmal sprechend wird, der Körper eine Stimme bekommt? Die Akustik der Dichterstimme ist ein eigenartiges Phänomen. Sie steht auf der Schwelle zwischen Materie und Medium, dem Sinn und den Sinnen, sie spricht und wird zugleich gehört. Seit ungefähr 100 Jahren gibt es Aufzeichnungen der Dichterstimmen, die mit nur begrenzter Aufnahmezeit ausgestatteten Wachswalzen wurden bald ersetzt durch leistungsfähigere Tonträger, die Schallplatten. Die 1920er-Jahre und die Nachkriegszeit waren Höhepunkte der Hörliteratur, seit Jahren schon hat sich das Hörbuch einen sicheren Platz im Literaturbetrieb erobert. Gute Zeiten also für eine Edition von Dichterstimmen.

Die Sammlung von Christiane Collorio, Michael Krüger, Hans Sarkowicz ist allein schon des Umfangs wegen ein Ereignis. Über 180 Erzähler aus 100 Jahren (der älteste Autor ist Jahrgang 1856) lesen auf 44 CDs insgesamt 50 Stunden Prosa, mal länger, mal kürzer. Die Herausgeber haben Wert darauf gelegt, möglichst geschlossene Erzähleinheiten auszuwählen, so dass der auf Handlung gespannte Leser auch hier meist auf seine Kosten kommt.

Einige Autorenstimmen kommen einem bekannt vor. Uwe Johnson erzählt mit exakten Betonungen von der „Katze Erinnerung“ (in dem Prosastück „Versuch, einen Vater zu finden“ aus dem Jahr 1975), Günter Grass liest mürrisch-selbstbewusst einige Kapitel aus seiner Chronik „Mein Jahrhundert“ (1999), und auch Martin Walsers kraftvolle Stimme („In Europa, alte Kleinstadt, guten Abend“ 1963) erkennt man, hat man sie einmal gehört, sofort. Das leise Timbre Ingeborg Bachmanns gewinnt in der Erzählung „Ihr glücklichen Augen“ (1969) eine Eindringlichkeit, die aus der Erfahrung gelebten Lebens stammt; es geht um den teils eitlen, teils hilflosen, teils virtuosen Umgang mit hoher Kurzsichtigkeit.

Ein im Sprechen unverwechselbarer Autor ist Walter Kempowski, den man aus „Tadellöser & Wolff“ (1971) lesen hört. Familienszenen als Ausschnitt aus der kollektiven Chronik der Deutschen, in schnoddrig-langmütigem Ton vorgetragen, machen hörbar, wie Kempowski ein gewissermaßen liturgisches Erzählen pflegt, das von der halb bußfertigen, halb aufbegehrenden Sprache eines Autors getragen wird, der lange Zeit als in die Literatur verirrter Archivar verkannt wurde, und auf diese Weise die zerrissene Ziet in den Kategorien von „Sühnewerk und Opferleben“ zu retten versucht, wie der Göttinger Germanist Kai Sina herausgefunden hat.

Hörerlebnisse sind auch Alfred Anderschs Vater-Sohn-Erzählung „Opferung des Widders“ (1963), ein Blick in den religiösen Untergrund des Nachkriegsrealismus. Der Vater, ein reicher Kölner Unternehmer, lässt seinen Sohn im Stich, hört Häuser sprechen, demoliert das Porzellan seiner Frau und liefert dem Hörer eine lupenreine Seelenanalyse, im Ton des sachlichen Understatements. Hans Carl Artmanns burleske Kurzgeschichte „Im Schatten der Burenwurst“ (1988) spricht eine bilinguale Sprache; der sich redlich ums Hochdeutsche mühende Protagonist, ein Würstelverkäufer, erwehrt sich des handgreiflichen Wiener Schmähs eines Edelkunden mit einer Senf-Attacke: „Zorro“ in der Imbissbude.

Oder Wolfgang Hildesheimers Groteske „Eine größere Anschaffung“ (1972), wiederum zurückhaltend gelesen, in der es um den Kauf einer Lokomotive geht. Und um ein letztes Beispiel aus der Abteilung ,Entdeckung‘ zu nennen: Der 1927 geborene Neurologe, Psychiater und Schriftsteller Ernst Augustin lässt den Hörer in seiner Erzählung „In Zeiten erhöhter Kriminalität“ (2007) teilhaben am Schicksal eines Mannes, der sein Haus als Hochsicherheitstrakt verbarrikadiert, dummerweise den Schlüssel von innen stecken und die Haustür ins Schloss fallen lässt – und dann einen hilflosen Experten nach dem anderen anberaumt, bis zum höchst überraschenden, dunklen Finale.

Während die Stimmen von Stefan Heym und Stephan Hermlin unaufgeregt, temperamentlos, ja gelegentlich langweilig klingen, fasziniert Günter de Bruyns trocken-humorvolle Lesung der „Deutsche(n) Zustände“ (1999) mit der Erinnerung an den Schuleignungstest der Tochter, die in der Zeit der Sputnik-Euphorie auf die Frage, was besonders hoch fliege, als Antwort – das entmündigende Denksystem der Diktatur entlarvend – die „Engel“ nannte. Auch Reiner Kunzes Prosastück „Elemente“ aus den „Wunderbaren Jahren“ (1976) zu vernehmen, ist eine Hörlektion in Sachen Diktaturaufklärung.

Es gibt Dichter, die weitgehend aus dem literarischen Kanon verschwunden sind. Doch dieser von Lektüre und Interpretation dominierte Schriftkanon verdient bisweilen eine Revision, hört man in so manche Lesung hinein. Das ist der Fall bei Hermann Kestens Erzählung „Ein Psalm für Wolke“ (1969), einem deutschen Exil- und Remigrationsschicksal von erheblicher Tragweite und Deutungstiefe.

Viel wäre noch zu sagen, etwa zu der deftigen Schweizer Mundart (in Dürrenmatts Groteske „Herkules und der Stall des Augias“ aus dem Jahr 1957), zu der berührenden ältesten Aufnahme des Hörprogramms, die von Sigmund Freud stammt, zu den Klassikern Karl Kraus und Thomas Mann (von Heinrich Mann gibt es leider keine Tonaufzeichnungen). Aus der Gegenwart kommen Ulrike Draesner, Felicitas Hoppe, Daniel Kehlmann, Michael Lentz, Sibylle Lewitscharoff, Andreas Maier, Herta Müller, Hanns-Josef Ortheil, Hans Joachim Schädlich, Arnold Stadler, Uwe Tellkamp und viele andere mehr zu Wort.

Diese CD-Edition von Erzählerstimmen rettet das akustische Gedächtnis der Literatur. Ein Stimmenpanoptikum von großer mundartlicher Vielfalt und rhythmischer Virtuosität. Es gibt gute Dichter, die schwach lesen, und poetae minores, die exzellent lesen. Hier sind die besten Stimmen versammelt. Ein Hörgenuss für viele Stunden, eine Zeitreise durch die Literatur, ein Reigen dichterischer Stimmeninszenierungen.

Titelbild

Michael Krüger / Hans Sarkowicz / Christiane Collorio (Hg.): Erzählerstimmen. Die Bibliothek der Autoren. 183 Autorinnen & Autoren, 100 Jahre Erzählung im Originalton.
44 CDs.
Der Hörverlag, München 2012.
3000 min, 149,99 EUR.
ISBN-13: 9783867177429

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