Gezeugt für die Firma

„Buddenbrooks“ als Vorbild: Nora Bossongs Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Chef steigt aus – buchstäblich und übertragen: Kurt Tietjen verlässt in New York nicht nur das Flugzeug, sondern zugleich sein bisheriges Leben. Er ignoriert sämtliche Termine, tauscht seinen Edelanzug gegen Discount-Klamotten und taucht in einer schäbigen Mietwohnung unter. Ganz schön verantwortungslos für den Geschäftsführer eines Essener Traditionsunternehmens mit über 200 Arbeitsplätzen, das seit geraumer Zeit ums Überleben kämpft. „Er war, wie ihm sein Vater gesagt hatte, für die Firma gezeugt worden, er hatte sein gesamtes Leben für die Firma gelebt. Er wollte nicht auch noch für die Firma sterben.“

Taumelnde Börsen, Währungen am Abgrund, Krise des Kapitalismus: Dass die Gegenwartsliteratur das Genre des Wirtschaftsromans wiederentdeckt, ist nicht gerade überraschend. Bislang war Ernst-Wilhelm Händler mit seinen Figuren aus der Unternehmenswelt so etwas wie eine Ausnahmeerscheinung im Literaturbetrieb. Inzwischen gesellen sich Autoren wie Thomas von Steinaecker oder Rainald Goetz dazu. Und Nora Bossong, die für ihren Lyrikband „Sommer vor den Mauern“ jüngst den Peter-Huchel-Preis erhielt. Nun legt sie mit „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ ihren dritten Roman vor. Vergleichbar ambitioniert wie die viel diskutierten Werke von Steinaecker oder Goetz ist er allerdings nicht; medial inszenierte Wirklichkeiten und ihre Folgen für die Literatur sind kein Thema für die 30-jährige Wahl-Berlinerin; statt an der Systemtheorie Niklas Luhmanns orientiert sich Nora Bossong an Thomas Mann und seinen „Buddenbrooks“. Denn auch bei ihr sind Unternehmens- und Familiengeschichte unauflöslich miteinander verquickt.

Zu Beginn des Romans reist Luise Tietjen nach New York, um Kurt, ihren toten Vater, heimzuholen. Zwei Jahre lang vertrat sie ihn als Geschäftsführerin des Essener Familienunternehmens, nun will sie ihr Erbe antreten. Ihre Zukunft als Konzernchefin scheint vor ihr zu liegen. Was nun folgt, ist aber nur die Vorgeschichte. Sie reicht zurück bis 1906, dem Jahr der Firmengründung. Die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Tietjens wird freilich nicht chronologisch erzählt, sondern als Puzzle, das der gespannte Leser Stück für Stück zusammensetzen muss.

Der Gründer Justus Tietjen galt mit seinem Frotteeunternehmen im Kaiserreich als der „weiche Krupp“; während er sich mit Handtüchern für Offiziere im Ersten Weltkrieg eine goldene Nase verdiente, steuerte sein Sohn die Firma geschickt bis in die Bundesrepublik. Vom Unternehmensgründer an wird jede neue Generation der Tietjens mit dem „Bewusstsein von Einzigartigkeit“ imprägniert. Die Hybris dieser Familie zeigt sich in dem wiederholten Versuch, auf dem US-Markt Fuß zu fassen. Jede Generation bemüht sich aufs Neue um eine Partnerschaft mit dem New Yorker Warenhausriesen Macy’s, unterzeichnet wird der Vertrag nie. „In New York hatte ihr Weltreich zu bröckeln begonnen, oder vielmehr waren die Risse eines längst bröckelnden Reiches sichtbar geworden. Etwas hatte seit Jahren an den Rändern der Tietjen’schen Macht geknabbert, und es fraß sich weiter voran, dachte Kurt am Ufer des East River.“

Kurt war einst angetreten, es besser zu machen als sein Vater, der selbst vor Subventionsbetrug nicht zurückschreckte; am Ende arbeitet aber auch der Sohn mit schmutzigen Tricks. Als er die Arbeitsbedingungen in seinen chinesischen Produktionsstätten mit eigenen Augen sieht, stürzt der Unternehmer in eine Sinnkrise. Statt zur Rettung der Firma harte Entscheidungen zu treffen, verschwindet Kurt einfach. In den Augen seiner Familie ein Fall von Fahnenflucht, in seinen eigenen der verzweifelte Versuch, ein familiäres Verhängnis zu beenden. Seine Hoffnung, die Firma würde nun untergehen und seine Familie aus ihren Klauen entlassen, wird jedoch enttäuscht. Seine Tochter Luise bricht überraschend ihr Philosophiestudium ab und übernimmt stellvertretend für ihren Vater die Unternehmensleitung. „Natürlich war es nutzlos, sich gegen etwas zu wehren, das längst feststand, schließlich war sie nicht in ein freies Leben hineingeboren worden, sondern in einen lebenslangen Arbeitsvertrag.“

Das von emotionaler Kälte und Distanz geprägte Vater-Tochter-Verhältnis bietet den Treibsatz für die nun folgende Tragödie. Nicht lange, und die sich einst für bessere Arbeitsbedingungen engagierende Studentin mutiert zur skrupellosen Konzernchefin, die voller Verachtung über ihren Vater denkt – leider gelingt es Bossong nicht, diesen Sprung wirklich glaubwürdig zu gestalten. Die Absicht indes scheint klar: Gezeigt soll werden, dass Familienbande in Wahrheit Ketten sind, denen keiner entkommt, und dass auch im Deutschland von heute soziale Unterschiede und Herkunft Lebensentscheidungen bestimmen. Das reicht – nicht zuletzt wegen Bossongs wunderbar unterkühlter Prosa – zumindest für einige fesselnde Lesestunden.

Titelbild

Nora Bossong: Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
300 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239753

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