„Dover im Harz“

Rüdiger Görners kluge Streifzüge durch die britisch-deutschen Kulturbeziehungen

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im „Guardian“ wurden am 19. November 2011 Großbritannien und Deutschland dahingehend verglichen, wie sie mit aktuellen Problemen umgehen. Die Punkte wurden in Form von Glasbierkrügen für die deutsche, von Pint-Gläsern für die englische Seite verteilt. Nur bei der Protestkultur siegten die Briten. In Sachen Rechts-, Sozial- und Wirtschaftslage standen die Deutschen vornean. Zwei Maße, zwei Kulturen. Der 1957 im Schwarzwald geborene, seit 1985 in England, jetzt am Queen Mary College der University of London lehrende Germanist Rüdiger Görner spricht von „Auswahlverwandtschaften“.

Ein kluges Wort für ein komplexes Phänomen. Die politische Situation in Britannien, wo der Deutsche als „Karikatur und Menetekel“ mehr „als anderswo“ präsent ist, ist Ausgang für eine feinsinnige und vielfach verästelte Studie der deutsch-britischen Kulturbeziehungen. Rüdiger Görner untersucht wechselseitige Wahrnehmungen, Identitätsbilder und Differenzerfahrungen, immer beglaubigt durch eigene Erfahrungen. Dabei muss man die schwierige Situation der deutschen Sprache in einem Land wie England mitbedenken. Seit der Entscheidung der britischen Regierung, Sprachunterricht an Schulen nach dem 14. Lebensjahr nur noch als Wahlfach anzubieten, nehmen die europäischen Fremdsprachenphilologien Schaden – was wiederum der deutschen Sprache schadet, die hierzulande einer, wie Rüdiger Görner anderorts schreibt, „hemmungslosen Selbstanglisierung“ ausgesetzt ist.

Das Buch ist geteilt in drei Abschnitte. „Grundlegendes“ erfährt man zum Typus des „Mittlers“, eines „aktiven Transnationalisierers“ (Ulrich Beck), der Grenzen in Brücken verwandelt. Sodann stehen Adam Müllers Kritik an deutscher Anglomanie, T. S. Eliots Problem mit der deutschen Klassik und Stephen Spender als englisch-deutscher Kulturvermittler zur Debatte. Dazu gehört auch die Unterscheidung des „Britischen“, eines inklusiv-integrativen Begriffs, vom „Englischen“, einem Exportartikel, der für Individualismus, fair play, Oxbridge-Mythos, anglikanische Kirche, manche Sprachakzente steht.

Das zweite Kapitel erschließt kulturelle „Traditionszusammenhänge“ vom manischen „Shakespearisieren“ der Goethezeit, in der Shakespeare zum größten deutschen Dichter wurde, und den Sonett-Übersetzungen (bis zu Ulrike Draesner) über Motive der Romantik (Coleridge und Novalis), Heines England-Bild, Fontanes Reflexionen über das Britische und seinen Blick auf die Heimat in der schottischen Fremde bis zu Shaws Kritik an Richard Wagner; Shaws Versuch, Wagners „literarische Musik“ ins Englische zu übersetzen, mündete in abstruse Verbalbildungen wie „Tristanizing“ und „Götterdämmerunging“.

Das dritte Kapitel untersucht, bis in die Gegenwart, deutsch-britische „Zeitgenossenschaften“ in Romanen und Gedichten. Vor allem Ilse Aichingers poetisches „England-Mosaik“, Wolfgang Hildesheimers Spiel mit dem Ende der Fiktionen und W. G. Sebalds querdenkendem, schwarzem Humor gebührt die Aufmerksamkeit ebenso wie Katharina Hackers London-Roman „Die Habenichtse“. Aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Abschied von England“ liest Rüdiger Görner Spuren zu weiteren bislang unentdeckten englischen Werkspuren.

Im „Helgoländer Epilog“ wird die deutsch-britische Vergleichslinie nochmals kulturkritisch ausgezogen. Medienintellektuelle sind hier wie dort Transformatoren des kulturellen Lebens, mediale Büchersendungen und  Talk Shows erfreuen sich beidseits des Kanals großer Beliebtheit, in der Wissenschaft stiften die Gedächtnismedienforschung als Teil der Filmstudien und die Erinnerungskulturforschung neue Beziehungen. Kein Zweifel, Rüdiger Görners „Dover im Harz“ zeichnet ein vielfältiges, historisch gewachsenes, hochlebendiges und bei aller Sympathie für Deutsche und Briten auch kritisches Porträt.

Titelbild

Rüdiger Görner: Dover im Harz. Studien zu britisch-deutschen Kulturbeziehungen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg, Neckar 2012.
362 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825357849

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