Der Hypertext ist tot!

Ein Interview mit der Internet-Literatin Susanne Berkenheger

Von Ann-Kathrin LorenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ann-Kathrin Lorenz

Im Dezember 2012 entführte Susanne Berkenheger Studierende und Dozenten des Instituts für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg in die Welt der Bombenleger und Hypertexte.

Die freie Schriftstellerin, Journalistin und Satirikerin wurde 1963 geboren, wuchs in Stuttgart auf und lebt heute in Berlin. Berkenheger erhielt für ihre Werke eine Vielzahl von Preisen. Mit ihrem Erstlingswerk „Zeit für die Bombe“ gewann die Künstlerin 1997 den Internet-Literaturpreis der „ZEIT“. Es folgten die Hypertexte „Hilfe“ (1999) und „Die Schwimmmeisterin“ (2003). 2005 gewann die Autorin den ersten internationalen Preis „Ciutat de Vinaròs“ für digitale Literatur in Barcelona und 2008 den CYNETart-Preis. 2009 begab sie sich zur „Expedition ins Accountleichenland“ von „Second Life“, und ihr jüngstes Projekt „Augmented Bombings“ führt die Autorin zurück an den Punkt, an dem alles anfing: „Bomben zünden!“.

„Zeit für die Bombe“ ist ein sogenannter Hypertext. Darunter versteht man die Vernetzung einzelner, möglicherweise aus unterschiedlichen Quellen stammender Textteile oder von Bild-/Tonmaterial mittels elektronischer Links. Susanne Berkenhegers Hypertext besteht aus 100 Text-Einheiten, die durch die Auswahl des Lesers miteinander verlinkt werden. So entsteht bei jeder Re-Lektüre eine neue Perspektive auf den Text, dessen Ende jedoch immer dasselbe ist: die Explosion der Bombe.

Berkenhegers Text erinnert an sogenannte „Mitmachkrimis“, bei denen der Leser selbst entscheiden kann, was als nächstes im Verlauf der Geschichte passieren soll. Jedoch erfährt er nur eine gewisse „Pseudofreiheit“, denn die Autorin hält die Fäden in der Hand. Sie spielt mit ihren Rezipienten, indem sie nicht nur das Grundgerüst und das Ende des Textes vorgibt, sondern auch Sackgassen einbaut und die Lesegeschwindigkeit bestimmt, was im Falle von „Zeit für die Bombe“ eine gewisse Hektik und Anspannung beim Leser auslöst, um Panik und Zeitnot vor der Bombenexplosion zu unterstreichen. Der interaktive Charakter verringert scheinbar die Distanz zum Autor. Auch die grafische Textgestaltung spielt im Hypertext eine wichtige Rolle. Sie macht den Text lebendig, kann Stimmungen und Gefühle akzentuieren und zur Hervorhebung und Abgrenzung der unterschiedlichen Spielräume beitragen.

Uns würde interessieren, woher die Idee kam, eine solch neuartige Textform zu produzieren, die so ganz anders funktionieren soll?

Berkenheger: Ursprünglich kam die Idee mit dem Aufkommen des Internets damals, also mit dem World Wide Web, das Internet gab es ja schon früher. Ich hatte schon meine ersten Erzählungen geschrieben und dachte, es wäre schön, wenn ich so eine Internetseite hätte als Autorin. Dann habe ich aber gesehen, dass, wenn man schon etwas im Internet macht, es ja schön wäre, die Möglichkeiten dort auch zu nutzen. Die waren damals hauptsächlich auf Hyperlinks beschränkt, was eigentlich, fand ich, sehr praktisch war und der Literatur auch entgegenkam. Zudem hatte ich damals schon Geschichten ausprobiert, in der handelnde Personen plötzlich auf Seite xy springen, wo also man innerhalb des Buches quasi hin und herspringen musste, und da lag es natürlich nah, etwas ähnliches auch im Internet auszuprobieren.

Letztendlich angefangen habe ich aber, weil ich eine journalistische Recherche im Internet machen sollte. Internetrecherchen haben damals ewig gedauert. Da wartete man ewig, bis sich diese Seiten aufgebaut haben, es hat wahnsinnig viel gekostet, deswegen ist auch hier (in „Zeit für die Bombe“) dieser Zeitstress als Motiv mit drin, weil man ständig dachte: „Oh Gott, das rechnet sich gar nicht mehr – das Honorar, was ich bekomme, und meine Onlinekosten.“

Und während ich wartete und wartete, habe ich immer gedacht, es wäre schön, eine Geschichte zu haben, bei der man nicht nur von einer Seite auf eine total andere kommt, sondern wenn es Personen gibt, die einen begleiten. Also, wenn man gemeinsam mit den Personen von Seite zu Seite springen kann, so als wären die Seiten Orte. Das war die Grundidee, an die ich mich dann später nicht mehr wirklich gehalten habe, aber die Grundidee sah so aus.

Ist es für Sie so, dass Sie nicht nur mit dem Text spielen, sondern auch mit den LeserInnen? Beziehungsweise die LeserInnen zum Spielen animieren wollen?

Berkenheger: Ja, das ist eigentlich der größte Spaß. Man versucht die Leser auf kleine Irrwege zu führen, die dann natürlich nicht gleich in einer totalen Sackgasse enden sollen. Ich habe damals ziemlich viel rumgeklickt, um das alles auszuprobieren, aber man kann es einfach nie vorhersehen, wie sich da jemand durchschlängelt. Im Grunde ist es eigentlich ein Dialog, deswegen spricht ja auch der Erzähler so viel…

Wie lange hat es denn gedauert, alle Möglichkeiten auszuschöpfen?

Berkenheger: Na, ich weiß gar nicht, ob ich alle ausgeschöpft habe. Jedenfalls hat es Nächte lang gedauert, und ich hatte schon so ein nervöses Zucken in den Augen, denn damals hat das immer so geflackert, wenn man die Seiten gewechselt hat. Ursprünglich war die Geschichte doppelt so lang, war aber noch nicht fertig. Ich habe einfach irgendwann angefangen, völlig ohne Plan, und hatte dann so kleine Karteikarten, auf denen ich mir die Links aufgeschrieben habe. Ich hatte also ungefähr doppelt so viele Seiten, als ich von diesem „ZEIT“-Preis gelesen habe. Es gab eine Beschränkung auf 100 kb, und ich hatte schon 200 kb. Also musste ich runterkürzen, und da hat eigentlich das heftige Klicken erst angefangen. Man merkt das auch heute noch am Text. Da sind noch manche Sachen drin, die keine Logik ergeben. Es kommt zum Beispiel ein Chauffeur vor oder eine Handgranate, keiner weiß warum, weil von beiden nie wieder die Rede ist. Also der Text ist nicht ganz rund geworden, aber es gab halt diese kb-Begrenzung und auch eine Deadline…

Sind Sie über die Zeit selbst zur Informatikerin geworden und programmieren Effekte und Animationen selbst?

Berkenheger: Ja, eine Zeit lang habe ich mich da ziemlich reingesteigert, was aber immer problematischer wurde. Mir gefällt eigentlich nach wie vor der pure Hypertext am besten. Aber ich habe nie gerne am Computer gelesen, und dann kam noch hinzu, dass die Bildschirme immer größer wurden, und es kommt einem einfach absurd vor, einen Text auf so einem riesigen Bildschirm zu lesen. Ich habe auch das Bedürfnis bei mir selber gespürt, dass meine Texte visueller daherkommen sollten. Und – so dachte ich mir – man könnte den Leser noch mehr beobachten. Wenn man programmiert, kann man ja zum Beispiel feststellen, wo die Maus hingeht, wie lange gezögert wird, bis der Klick kommt und so weiter. Theoretisch kann man auf all das reagieren. Dazu musste ich mich in eine Skriptsprache einarbeiten, also Java-Skript, das ist noch relativ leicht. Da hätte ich dann auch relativ viel mit machen können, aber habe dann natürlich festgestellt, dass je mehr man auf einzelne Aktionen vom Leser reagiert, umso mehr weitet sich das Ganze aus. Im Grunde ist es unlösbar, was man auch an meinem zweiten Projekt „Hilfe“, erkennt, denn hier musste ich durch die Baumstruktur des Textes feststellen, dass es einfach immer mehr wird und ich bis an mein Lebensende diesen Baum wachsen lassen kann. Völlig absurd. Bei der „Schwimmmeisterin“ habe ich noch mehr programmiert, was dazu geführt hat, dass ich durch diese Programmierungen dem Leser nur noch eine Pseudofreiheit gelassen habe. Da taucht zum Beispiel ein zweiter Mauszeiger auf, der vom Programm aus dann einfach dahin klickt, wo die Leser hinklicken sollen. Irgendwann hat es mir dann aber gereicht mit den ganzen Programmierungen, denn je mehr Programmieraufwand dahintersteckte, umso schneller veralten auch die Sachen, weil sich die Programmier- beziehungsweise Scriptsprache ständig verändert. Das ist auf Dauer ziemlich unerquicklich.

War es eigentlich Ihr Ziel, durch den Hypertext und die Interaktivität des Rezipienten die Distanz zwischen Autor und LeserIn zu reduzieren?

Berkenheger: Vielleicht. Zumindest sehen das viele Leser so, denn ich wurde tatsächlich oft angemailt. Lustig fand ich, wenn Leute meinten: „Sie haben immer versucht mich auszutricksen während des Lesens.“ Einem ging es auch mal andersrum: Er hatte das Gefühl, durch besonders geschicktes Klicken mich ausgetrickst zu haben. Also ist es anscheinend tatsächlich so, dass man irgendwie eine Art von intimer Situation am Computer hat, die das Gefühl mit sich bringt, man sei im Dialog mit mir.

Inwiefern haben Sie und Ihre Texte sich denn weiterentwickelt und verändert zwischen 1997 und 2012? Haben Sie das Gefühl, es ist einfacher geworden, oder gibt es vielleicht auch Dinge, die sich zum Negativen entwickelt haben?

Berkenheger: Naja, es kommt immer darauf an, was man machen möchte. Also meiner Meinung nach gibt es die Netzliteratur gar nicht mehr so wirklich. Aber das war eigentlich schon so, als ich angefangen hab. „Der Hypertext ist tot!“ hieß es, und dann irgendwann wurde ich als „Veteranin der schwindsüchtigen Szene“ bezeichnet. Das war das Ende. Das Netz ist technisch immer anspruchsvoller geworden. Man erwartet viel mehr, weil man natürlich auch viel mehr machen kann. Was ich im Moment ganz interessant finde und ausprobiere, sind die Apps, denn da hat man wieder ein kleineren Bildschirm und ein Ding, das für sich steht, also ohne Browser oder ähnliches funktioniert, und das auf einem Tablet oder einem Smartphone läuft, also auf Geräten, die man auch als Lesegerät verwendet. Da reicht es aus, einfach nur Text zu haben, und man braucht keine wilden Animationen – noch! Ich stelle mir das ganz reizvoll vor und habe von „Zeit für die Bombe“ mal eine Dummy-Version erstellt, die ich aber auch noch testen muss, in langen Nächten. (Anmerkung drei Monate später: Schön waren sie, die langen Nächte. Mittlerweile kann die Beta-Version für Android hier heruntergeladen werden.)

Sehen Sie sich eigentlich auch selbst als „Die Online-Literatin“ beziehungsweise als Vorreiterin einer neuen Literaturrichtung?

Berkenheger: Naja, die Schwierigkeit ist, dass diese Literaturrichtung nicht weiterverfolgt wurde. Manchmal denke ich, ich hab mir da irgendwas Abstruses ausgedacht, was vielleicht manche Leute interessiert hat, was aber letztendlich nicht weiterbetrieben wurde, weil es absolut keine ökonomische Basis dafür gibt. Man kann da nichts verkaufen, also gibt es auch keinen keinen Markt dafür, und insofern ist der Hypertext immer in einem Experimentalzustand. Die Vorreiterin? – Ich weiß nicht, ich wunder’ mich da eigentlich selbst immer drüber. Ich kriege das ja gar nicht so mit. Schon damals, als ich diesen Preis gewann, dachte ich: Nach einem Jahr ist das wieder vergessen. Vor allem weil ja alle immer gesagt haben: „Der Hypertext ist tot.“ Ich persönlich finde das sehr schade, denn mein Herz hängt immer noch sehr an diesen verzweigten Erzählungen.

Wie sehen Sie denn Ihre eigene Weiterentwicklung in der Art dieser Literatur und wie Sie sich künstlerisch im Netz bewegen? In welche Richtung haben Sie sich weiterbewegt? Wie sehen Ihre neuen Projekte aus?

Berkenheger: Schwer zu sagen. Bei der „Schwimmeisterin“ war neu, dass der Leser eigentlich wirklich verarscht worden ist, muss ich sagen. Das war ein Hypertext, der nicht wirklich einer war. Die Geschichte war folgende: Es schleicht sich ein Virus ein, den man als Leser bekämpfen muss, man hat aber keine Chance, ihn zu bekämpfen. Der Virus taucht dann als zweiter Mauszeiger auf, und wenn der Leser auf einen Link klicken will, dann kommt genau dieser Mauszeiger und klickt auf den anderen Link. Das war im Grunde mein Abschied vom Hypertext. Nach „Hilfe“, das eben diese Baumstruktur hatte und unkontrollierbar auseinandergewachsen ist, kam die „Schwimmmeisterin“, die eigentlich die Reaktion darauf sein sollte, also ein Kommentar, der sagt: „Das geht einfach nicht, der Hypertext ist nicht zu machen!“ Und ich wollte auch zeigen, dass der Hypertext extrem manipulierend für den Leser ist. Der Rezipient besitzt keine Freiheit, sondern er wird gelenkt.

Nach der „Schwimmmeisterin“ wollte ich aber trotzdem wieder einen Hypertext machen, allerdings nur noch mit Förderung, weil das Ganze so zeitaufwendig wurde, dass ich dachte: Ich kann das nicht alles immer kostenlos machen. Aber schon für die Förderung der „Schwimmeisterin“ musste meine eine Unterstützerin beim Literaturfonds jahrelang Überzeugungsarbeit leisten und ich habe immer neue Anträge dort eingereicht. 2007 habe ich mich dann bei einer anderen Stiftung beworben, wieder mit einem Hypertext, leider erfolglos. Die sagten aber dann, sie wollen eine Ausstellung in „Second Life“ machen und fragten mich, ob ich mitmachen wolle. Und so hat es mich dann in die Netzkunst verschlagen. Da habe ich dann die Accountleichenbewegung gegründet, das war ein Projekt, mit dem ich forderte, die neun Millionen Accountleichen, die es damals mutmaßlich in Second Life gab, sichtbar zu machen und in einer bestimmten Haltung darzustellen, in der sogenannten Away-from-Keybord-Haltung. Da hängen sowohl Kopf als auch Arme der Avatare relativ schlaff runter.

Die Kampagne bekam ziemlich gute Resonanz in der Presse und zog ein Folgeprojekt nach sich, „Die letzten Tage von Second Life“. Da haben wir eine archäologische Expedition durch das völlig leere „Second Life“ gemacht, und die ,Forscher‘ haben in einem Blog bizarre Forschungserkenntnisse veröffentlicht: was vielleicht mal stattgefunden haben könnte, als noch Avatare da waren, wo die ganzen Avatare hin sind und so. Das war wirklich absurd.

Das Lustigste, was wir damals gefunden haben, war eine Insel, die hieß Politik.de und da fanden ganz am Anfang von „Second Life“, als es geboomt hat, viele politische Diskussionen statt. Aber jetzt ist die Insel total verwaist, da war schon zwei Jahre lang niemand mehr da. Es gab für alle Parteien Häuser, und das einzige Haus, das noch regelmäßig betreut worden ist, war das von der SPD. Da waren dann überall Plakate von Steinmeier – auf einer völlig leeren Insel. Das war sehr skurril und eine Sensationsentdeckung – „Forscher entdecken verschüttete Insel“.

Ja, als nächstes habe ich ein „Augmented Reality“-Projekt mit dem Titel „Augmented Bombings“ gemacht. Da kann man kleine Bomben bestellen. Ich mache da ziemlich vermessene Versprechungen, nämlich dass man mit diesen kleinen virtuellen Bomben alle anderen „Augmented Reality“-Objekte – die ja inzwischen schon überall rumflirren, auch in meiner Küche war vor kurzem so ein Alien – wegbomben kann, aus seinem privaten Raum. Aber es funktioniert natürlich nicht. Es wird wahrscheinlich nie funktionieren, aber die Hoffnung hat man dann, wenn man so eine Bombe besitzt. Auf jeden Fall! Ja und jetzt habe ich ja noch die App „Zeit für die Bombe“ gemacht, und wenn die wirklich funktioniert, also gut zu lesen ist, dann habe ich vor, wieder einen ganz normalen Hypertext zu machen. Und vielleicht noch ein Kunstprojekt nebenher. Dann teilt sich mein anfängliches Hobby und heutiger Zweitberuf (finanziell gesehen eher ein Mini- bis Microjob) ungünstigerweise nochmals in zwei Stränge auf: das Kunstding und der Hypertext.

Anmerkung der Redaktion: Das Gespräch führten Ann-Kathrin Lorenz und Anne Moniac.