Vielleicht ist Gott kurz mal weggegangen, irgendwohin

Anmerkungen zu Claude Cuenis Roman „Der Henker von Paris“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts regierten in Frankreich Adel und Klerus. Der König herrscht in Versailles. Das Volk hungert, der König lebt in Saus und Braus. Die daraus entstehenden Unruhen und Unzufriedenheiten führen zu erhöhter Kriminalität und letztendlich zum Aufstand. Zuerst allerdings lehnen sich Einzelne auf. Ihr Widerstand bringt sie in Konflikt mit der Obrigkeit. Die Hinrichtungen werden zum Spiegel der Verfassung einer Gesellschaft und gleichzeitig zu ihrem unterhaltungstechnischen Ventil. Dies sollte allerdings auch in mancher Hinsicht problematisch werden, als der Unmut des Volkes über ungerechte Bestrafungen wächst: „Jean-Louis Louchart gab der Wut ein Gesicht. Er hatte in Notwehr seinen trunksüchtigen und gewalttätigen Vater umgebracht. Vater und Sohn hatten einmal mehr über Benjamin Franklin gestritten, Erfinder des Blitzableiters und einer der Väter der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Dort stand geschrieben, dass alle Menschen frei und gleich geboten sind.“

„Mein Vater ist Monsieur de Paris“ lässt Claude Cuenis seinen Protagonisten Charles-Henri Sanson sagen. Der Protagonist steht zu seiner Familientradition. Sein Vater, sein Großvater, alle waren Henker im Dienst der Justiz von Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt der Erzählung ist Charles’ Vater vom Land in die Hauptstadt von Frankreich gezogen, um das Amt des Henkers von Paris, euphemistisch „Monsieur de Paris“ betitelt, zu übernehmen. Er übt folgerichtig den sehr exponierten Beruf des Scharfrichters aus und setzt eine Familientradition fort, die alle Sansons vor ihm mehr oder weniger als Fluch begriffen haben. Trotz einer Erziehung im Geiste der französischen Aufklärung setzt sich die berufliche Tradition in der Familie fort, bleibt das Amt des Henkers doch ein gesellschaftliches Stigma. Der Vater des berühmten Henkers der Französischen Revolution gibt seinem Sohn ein sehr aufklärerisches Motto mit auf den Weg: „wenn ein Mensch sein Schicksal erkennt, kann er ihm entrinnen. Der Mensch ist frei“. Trotz dieser Erkenntnis wird es mit der selbstbestimmten Freiheit nichts. Zwar kann sich Charles im Kontext seiner beruflichen Bestimmung auch mit Heilkunde, Medizin und medizinischer Forschung beschäftigen, da er uneingeschränkten Zugriff auf die Leichname der Hingerichteten hat, aber als Arzt im Nebenberuf erlangt er keine Anerkennung, obwohl er als Heiler frequentiert wird. Seine medizinischen Erfolge bestätigen dabei nur seinen hohen Wissenstand.

Charles-Henri Sanson steht an der Bruchstelle einer Epoche, repräsentiert die Monarchie mit ihren Grausamkeiten ebenso wie die Französische Revolution mit ihren Strömen von Blut und der Erfindung der Guillotine. Die Problematik der Zeit spiegelt sich in der Problematik seiner Familiengeschichte. Zwang und Freiheit, schicksalhafte Vorbestimmung und die Möglichkeiten einer aufgeklärten Welt – alles liegt in der individuellen Geschichte ebenso wie in der erzählten Zeitgeschichte verborgen. Cueni verbindet und verzweigt beides miteinander und baut eine Spannung auf, die in den öffentlichen Auftritten von Sanson als Henker – also bei den Hinrichtungen – kulminiert: „Am Tag der Hinrichtung verliessen zwei Karren in den frühen Morgenstunden den Gefängnishof im Städtchen Versailles. Sie wurden bereits von einer grossen Menschenmenge erwartet. Doch als die Tore geöffnet wurden und Charles-Henri Sansons Wagen erschienen, gab es weder Hohngelächter noch Geschrei. Die Menge schwieg. Es war ein bedrohliches Schweigen. Mit finsteren Blicken starrten die Menschen auf Charles, der wie ein Feldherr aufrecht im ersten Wagen stand.“

Während der Säuberungen der Französischen Revolution Anfang der 1790er-Jahre musste man in Paris mit dutzenden von Hinrichtungen pro Tag rechnen. Der Henker von Paris treibt langsam dem Wahnsinn entgegen. Hier lässt der Autor die Widersprüche aufbrechen, der Henker wird ein Zweifelnder. Sowieso schon überdurchschnittlich gebildet und mit medizinischen Fähigkeiten begabt, zentriert er die Widersprüche der Zeit. Besonders eindrucksvoll und der Authentizität des Romans sehr zuträglich sind Details, die Cueni in seine Erzählung einbaut, etwa wenn er die Treffpunkte in Paris – etwa das Palais Royal – beschreibt, wo sich Adel, Presse, Volk, der Henker und die Prostituierten treffen. Cuenis Beschreibungen lassen den Leser in ein dreckiges, blutiges Paris eintauchen, in dem Jeder – auch der Henker – froh ist, wenn er überlebt.

Die Beschreibung von Sansons erster öffentlicher Hinrichtung an einem Königs-Attentäter bringt den Leser zu Beginn des Buches schon an den Rand der Belastbarkeit. Trotzdem möchte man auf keinen Teil der Erzählung verzichten. So macht die Verbindung von Zeitgeschichte und Individualgeschichte die anfängliche Familiengeschichte im Fortgang der Erzählung zu einem herausragenden historischen Roman, der weit über die zeitgeschichtlichen Ereignisse hinaus weist, Philosophie und Aufklärung einbezieht und ein brutales, aber authentisches Bild des 18. Jahrhunderts vermittelt.

Titelbild

Claude Cueni: Der Henker von Paris. Roman.
Lenos Verlag, Basel 2013.
400 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783857874338

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