Halb-nüchtern, halb-ekstatisch

In dem 2013 erschienenen Band „7 Zirkel des Golem – Das Ende der Enthaltsamkeit“ wird von 24 Autorinnen und Autoren das Ende der asketischen Normalgesellschaft gefordert

Von Jana ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anselm Lenz und Alvaro Rodrigo Piña Otey haben eine abwechslungsreiche Textsammlung herausgegeben: Die sieben Kapitel mit Schriften ganz verschiedener literarischer Gattungen und Genres reichen von „Bier“ bis „Wodka“ und sind ein Plädoyer für den Alkoholgenuss, wider die Askese. So kündigen sich die Gedichte, Kurzgeschichten und Essays der zahlreichen, vornehmlich jungen Autoren jedenfalls an. Nach dem Ende eines jeden Textes bleibt beim Leser allerdings ein Unbehagen dem Exzess gegenüber zurück. Anders, als der Untertitel es behauptet, geht es in den Texten nicht um „Bars, Cocktails und die Schönheit des Niedergangs“, sondern um Kneipen, Mischgetränke und Alkoholabstürze.

In der kurzen Erzählung „Selbstversuch ohne Saufen“ von Tino Hanekamp entledigt sich der Ich-Erzähler nach jedem Tag, an dem er entgegen seiner Vorsatz doch Alkohol konsumiert hat, einem seiner Finger auf brutalste Weise. An der Kreativität seines Gemetzels à la Tarantino mit Brotschneidemaschine, Geflügelschere und durch Zerquetschen mit dem Toilettendeckel ist wohl auch der Alkohol Schuld. Am Ende bleiben ihm drei Finger der rechten Hand – gerade genug um ein Cocktailglas stilvoll zu halten. Ein ähnliches Unbehagen löst die Geschichte über einen revolutionären Kneipengänger aus, der den Vollrausch mit 3,0 Blutalkoholkonzentration erreichen will, um eine alkoholbedingte Schuldfähigkeit für ein Verbrechen zu bewirken: Im Einsatz für eine bessere Stadtentwicklung zündet er den Tannenbaum samt Bauplakat zum Richtfest für ein unliebsames Shoppingcenter-Bauprojekt an. Idealistisch ist das nicht, vielmehr werden hier in kargem Realismus die verkommenen Überreste alter Ideale eines Säufers präsentiert. So wird dann auch allzuoft „die Gesellschaft“ als Antagonist des Alltagstrinkers angeprangert, die den Kaffee liebt und die Leistungsfähigkeit. Dass „die“ Gesellschaft Alkoholgenuss als sozialisierendes Ritual durchaus legitimiert, wird zu Gunsten einer idealistischen Attitüde ausgespart und der Alkoholgenuss als Privatrebellion vage gegen alles Mögliche behandelt.

Dabei ist auffallend viel intellektuelle Pose im Spiel. In der Gesprächsaufzeichnung zweier Künstlerinnen mit dem Titel „Dissonanzen“ von Oliver Harald Bulas beklagen die Sprecherinnen den gekünstelten Habitus der intellektuellen Elite der jeweils anderen, nahezu jeder Text ist gespickt mit einem Übermaß an Latinismen und in der Erzählung „Prisma Katapult (Lord der Einhörner)“ von Nis-Momme Stockmann hängt man sich affektiert und inhaltsleer an dem Wort „halb-intellektuell“ auf. Hier wird vielmehr das Image eines Menschentypus’ entworfen und damit Selbst-Inszenierung der Autoren betrieben, als dass tatsächlich wissenschaftliche oder künstlerische Diskurse angeregt würden: das Image eines halb-intellektuellen, halb-idealistischen, halb-leistungsfähigen, halb-künstlerischen Halb-Alkoholikers, der nichts ganz zu Ende bringen kann, weil er die halbe Zeit betrunken ist. Es ist schade, dass die jungen Autoren sich und ihre Texte nicht ernst genug nehmen, sondern ein Spiel mit Zitaten, Zeichen, Montage und Bricolage im Sinne postmoderner Ironie treiben – das leider ergebnislos und unbefriedigend bleibt.

Zur Unterstützung werden wiederholt die alten Griechen und Römer hinzugezogen, deren bacchische Ausschweifungen so lange her sind, dass man sie getrost zu einer idealen Form menschlicher Zusammenkunft und Lustgewinnung stilisieren kann. Da der Mensch der Antike dennoch herausragende philosophische, militärische und kulturelle Leistungen hervorgebracht hat, können die ekstatischen Momente von Rausch und Lust nicht geschadet haben, sondern haben vielleicht, wie die Autoren hoffnungsvoll anklingen lassen, diese Errungenschaften sogar erst ermöglicht. Sicher steckt in all dem Ironie. Darin, aber noch vielmehr in den immerhin informativen Erläuterungen zu den sieben den Band thematisch gliedernden Alkoholsorten (mit Hinweisen zu ihrer Geschichte, Ingredienzen und ihrer Verkostung), liegt doch der Sinngehalt dieser zu verspielten Publikation.
Einwandfrei sind aber die Cocktail-Rezepte am Ende der Sammlung: Nichts Karibisches, nur puristische elegante Klassiker werden zelebriert. Und wer die Lektüre ernster als die Autoren genommen hat, dem ist die Lust auf übermäßigen, geschmacklosen Alkoholgenuss ohnehin vergangen.

Titelbild

Anselm Lenz / Alvaro Rodrigo Piña Otey (Hg.): Das Ende der Enthaltsamkeit. Über Bars, Cocktails, Selbstermächtigung und die Schönheit des Niedergangs.
Edition Nautilus, Hamburg 2013.
267 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017743

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