Was kann man aus Filmen lernen?

Die 24 Beiträge des Sammelbandes „Was lehrt das Kino?“ von Stefan Keppler-Tasaki und Elisabeth K. Paefgen bieten aufschlussreiche Analysen zu Filmen des Kanons der Bundeszentrale für politische Bildung

Von Sascha Ulrich-MichenfelderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Ulrich-Michenfelder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Einleitung dieses Bandes findet sich die Aussage „Die Literatur, das ist oft das Kino“. Sie geht auf den französischen Regisseur Jean-Luc Godard zurück. Wird mit diesem Bonmot – wie Stefan Keppler-Tasaki bemerkt – einerseits das Trennende zwischen den beiden Medien betont, so zeigt dieser Sammelband, dass das Kino zugleich Gegenstand der Fachliteratur ist und damit die beiden Medien durchaus gemeinsame Berührungspunkte fernab des Drehbuchs aufweisen.

In Anlehnung an die ebenfalls bekannte Sentenz „Film, das ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde“ von Godard werden in diesem Band 24 Filme des Filmkanons von 24 Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen untersucht. Das Unterfangen, verschiedene Disziplinen sinnvoll und kriteriengeleitet zu verbinden, wird durch die übergeordnete Frage „Was lehrt das Kino?“ initiiert. 24 Filme, 24 Experten verschiedener Disziplinen und nicht zuletzt 24 Themen lassen sich nicht auf den ersten Blick miteinander in Beziehung setzen. Es ist im vorliegenden Sammelband in bemerkenswerter Weise gelungen, Berührungspunkte vorzustellen. Themen- und Perspektivvielfalt werden in einen sinnvoll strukturierten Zusammenhang gebracht und lassen die einzelnen, in sich abgeschlossenen Beiträge zu einem Sammelband werden, der die Titelfrage beantwortet.

Zunächst einmal zeigt ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis, dass der Band nachvollziehbar entlang dem jeweiligen Erscheinungstermin der analysierten Filme gegliedert wurde. Das Layout ist schlicht, aber durchaus ansprechend und darüber hinaus sind in den einzelnen Aufsätzen Szenenausschnitte eingebunden, die es dem Leser erleichtern, den Filmanalysen visuell zu folgen. In der Einleitung werden Zitate von Godard eingebunden und gedeutet; sie fungieren als Gliederungselemente. Es wird beschrieben, welche Themen (beispielsweise Literaturverfilmungen, das Verhältnis von Subjekt und Macht, filmisches Erzählen oder Genrefragen) im Band erörtert werden, welche Berührungspunkte Literatur und Film aufweisen und welche Zielsetzung verfolgt wird. Der interdisziplinär angelegte Band führt somit verschiedene Überlegungen und wissenschaftliche Paradigmen unter dem Aspekt des Filmkanons zusammen, was die einzelnen Aufsätze im Hinblick auf ihre Interpretationsansätze lesenswert erscheinen lässt. Auf den letzten Seiten finden sich ein umfangreiches Autorenverzeichnis und ein hilfreiches Register.

Wie bereits der Titel vermuten lässt, verfolgen Autoren und Herausgeber eine didaktische Perspektive, die auf den Filmkanon der Bundeszentrale für politische Bildung Bezug nimmt. Dieser umfasst 35 Filme. Bis 2003 war ein Expertenteam damit beauftragt worden, sich auf einen Filmkanon zu verständigen, der Jugendliche bei der filmischen Sozialisation zur Verfügung gestellt werden sollte. Anleitungen, Hilfestellungen und Handreichungen wurden für Lehrkräfte entwickelt, um Filme besser in den Unterricht zu integrieren und deren tiefgreifende Analyse zu fördern. Aus der Kritik, dass es sich vorwiegend um Filme für Schüler ab 12 Jahre handle, entstand der Impuls zu einem ergänzenden Kinderfilmkanon, der 14 Filme umfasst. Die im Sammelband analysierten Filme sind dem Filmkanon entnommen, der vielen Schülern und Lehrern leider nicht ausreichend bekannt ist. Damit tragen die Aufsätze maßgeblich dazu bei, sich mit dem Kanon, seiner Entstehung und seinen Inhalten auseinanderzusetzen. Einige Filme (beispielsweise „Emil und die Detektive“ aus dem Jahre 1931) sind sowohl im Filmkanon als auch im speziellen Kinderfilmkanon verzeichnet. Für einen gelungenen Abschluss des Sammelbandes wäre es dennoch hilfreich, wenn der Kanon in weiteren Auflagen Erwähnung finden würde. Zudem wäre es für interessierte Leser hilfreich, nützliche Informationen wie einführende Literatur zur Filmanalyse oder eine Linksammlung aufzubereiten. Dies fehlt leider in der aktuellen Auflage.

Auch wenn die Filmdidaktik in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt wurde, so fehlen fächerübergreifende Konzepte, die beispielsweise Grundpositionen zur Literaturverfilmung mit Aspekten verfilmter Geschichte oder dem Sense of Place in Verbindung bringen. Hieran arbeiten Fachdidaktiker verschiedener Disziplinen. Eine Vereinigung dieser Konzepte findet in diesem Sammelband statt, jedoch nicht im einzelnen Aufsatz.

Die Analysen selbst sind durchweg herausragend, stets nachvollziehbar, anschaulich und detailliert. Dies soll als deutlicher Vorzug festgehalten werden. Selbst dem versierten Leser werden neue Informationen und Erkenntnisse präsentiert, die wiederum auf eine umfassende Arbeit mit der aktuellen Forschungsliteratur verweisen. Es ist den Autoren sehr gut gelungen, ihre Analyse klar strukturiert vorzunehmen, um so dem Leser eine Anleitung zu geben, wie Filme in Bezug auf gewisse Fragestellungen untersucht werden können.

Indessen bleibt jedoch offen, unter Berücksichtigung welcher Kriterien die 24 analysierten Filme aus dem Kanon ausgewählt wurden. Dies wird dem Leser nicht transparent gemacht, weshalb ihm, der die 35 Filme kennt, die man kennen muss, unklar bleibt, warum Charlie Chaplins „Goldrausch“ oder Billy Wilders „Das Appartement“ fehlen. Wird den Filmen damit abgesprochen, eine Antwort auf die Frage nach den Lehrinhalten des Kinos geben zu können? Dies soll damit sicher nicht impliziert werden. In diesem Falle sollte daher in einer Neuauflage darauf geachtet werden, den Hintergrund der Filmauswahl nachvollziehbar zu begründen.

Zusammenfassend bleibt die Frage zu formulieren, ob nicht eine Fortsetzung (24 weitere Filme) sinnvoll wäre, um den Kanon zu vervollständigen und weitere Filme zu analysieren. Wünschenswert wären zudem ergänzende Aufsätze zum Kinderfilmkanon, um weitere fachwissenschaftliche Grundlagen für Schüler, Studierende und Lehrende zu legen, die sich mit Filmanalyse im Unterricht beschäftigen wollen.

Der vorliegende Band führt verschiedene aktuelle Ansätze zusammen und bietet über die Forschungsliteratur zu den einzelnen Filmen einen ausgezeichneten Überblick, obgleich – wie die Herausgeber anmerken – dies nur die vorläufig letzte Konsequenz betrachtet werden darf. Es ist an der Zeit, Filme als eigenständige Medien des Unterrichts zu begreifen und unter Berücksichtigung der fachwissenschaftlichen Grundlagen sowie verschiedener institutioneller Rahmenrichtlinien ein Spiralcurriculum zur Filmlesekompetenz zu entwickeln. Dieses sollte – wegweisend sind auch hier die Beiträge des Bandes – interdisziplinär ausgerichtet sein und demzufolge Kategorien des Visuellen, Akustischen, Ästhetischen, Moralischen, Historischen und Räumlichen vereinen.

Titelbild

Elisabeth Paefgen / Stefan Keppler-Tasaki (Hg.): Was lehrt das Kino? 24 Filme und Antworten.
edition text & kritik, München 2012.
542 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783869161815

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