Suche nach Spiritualität

„Die Schriften von Accra“ sind ein Fazit des bisherigen Lebenshilfe-Werkes von Paulo Coelho

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor den Mauern Jerusalems traf am 14. Juli 1099 ein Heer von rund 15.000 Kreuzfahrern Vorbereitungen zum Angriff. In der Morgendämmerung begann der Sturm auf die Verteidigungslinien der Heiligen Stadt. Die gewaltigen Mauern wurden mit Türmen, Katapulten und Rammböcken eingenommen, eine schnelle und blutige Niederlage drohte. In Jerusalem lebten zu jener Zeit Muslime, Juden und Christen harmonisch zusammen. Ihre geistlichen Führer und viele der Einwohner versammelten sich am Vorabend der Invasion ihrer Stadt in jenem Hof, in dem über eintausend Jahre zuvor Pontius Pilatus Jesus der Menge zur Kreuzigung übergeben hatte. In einer bangen, ruhelosen Nacht suchten die Belagerten Mut und Trost in den Worten eines Griechen, den sie schlicht als „den Kopten“ kannten.

Hier beginnt die Handlung des neuen Romans von Paulo Coelho: „Die Schriften von Accra“. Der Kopte will das Wissen der Heiligen Stadt retten – „die Weisheit, die im Herzen der Menschen guten Willens wohnt“. Hierzu befragen die Bürger den Gelehrten, als seien sie seine Schüler. Er antwortet und spricht zu ihnen über den Umgang mit Erfolgen und Niederlagen im Leben, das Alleinsein, die Angst vor Veränderungen, Schönheit und Liebe, Sinnsuche, Loyalität, Freundschaft und deren Pflege und Prüfungen. Seine Antworten werden aufgeschrieben, die Vorläufer der „Schriften von Accra“ entstehen – ein Manuskript, das auf das Jahr 1307 datiert wurde und eben jenes gesammelte und überlieferte Wissen beinhaltet. Paulo Coelho erhielt, so schreibt er im Geleitwort des Romans, im November 2011 eine Kopie des Originaltextes.

Coelhos ungewöhnlicher Roman zu den „Schriften von Accra“ besteht aus den Fragen der Einwohner Jerusalems und den monologistischen Antworten des Kopten über die Sinnsuche und die menschliche Seele am Vorabend der Schlacht um Jerusalem im Jahr 1099. Doch es sind keine Hinweise zur Stadtverteidigung, die der Kopte gibt. Letztlich ist der Kern der Reden des Kopten aktive Lebenshilfe. Er will „die Sonne zum Strahlen bringen, die in unserer Seele wohnt“: „Nichts und niemand auf dieser Welt ist in den Augen Gottes überflüssig“. Alles von Gott geschaffene spiegele das Wunder der Schöpfung wider. „Die höchste Manifestation des Wunders Gottes ist das Leben“. Die Liebe Gottes offenbare sich in der Natur und in den der Natur inhärenten vier unsichtbaren Kräften „Liebe, Tod, Macht und Zeit“.

Paulo Coelho, der schon als Kind von seinen Eltern in eine psychiatrische Anstalt gegeben wurde, weil sie ihn für wahnsinnig hielten, der sich später „der Hippie-Bewegung anschloss und alle möglichen Drogen nahm“ und der in den 1970er Jahren von der brasilianischen Militärdiktatur brutal gefoltert wurde (so Coelho selbst im Interview mit dem „Süddeutsche Zeitung Magazin“ 33/2012), musste in seinem Leben Erniedrigung und Ängste erleben. In der Folter bis an den Rand der Verrücktheit getrieben, experimentierte Coelho jahrelang mit Drogen und schwarzer Magie; seitdem sind Lebensträume, Lebensglück und die Offenbarung göttlicher Kraft die Hauptthemen seiner Romane.

Ungern spricht Coelho darüber, was es ihn gekostet hat, die Früchte seiner Arbeit zu erringen und wie es ihm gelang, positiv zu denken. Er lässt den Kopten antworten: „Ich habe oft daran gedacht aufzugeben, ich glaubte immer wieder, Gott würde mich nicht mehr erhören, ich habe mehrfach die Richtung wechseln müssen und mich gelegentlich auch verlaufen.“ Es ist vor dem Hintergrund der erfahrenen Leiden beeindruckend lebensbejahend, wenn Coelho den Kopten resümieren lässt: „Daher lasse nicht zu, dass die Bangigkeit des Herzens dein Leben kontrolliert.“

Der Kopte bringt Coelhos Botschaften kurz und schlicht auf den Punkt: „Sei nur du selbst! Das allein zählt.“ Und man solle es vermeiden, „andere zu kritisieren, […] konzentriere dich auf das, wovon du immer geträumt hast.“ Coelho spricht durch den Kopten zum Leser. Dass Teile der Romane Coelhos autobiografisch sind, ist nicht neu. Sein letzter Roman „Aleph“, der von Coelhos Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostock berichtet, darf laut dem Autor als zu einhundert Prozent autobiografisch gesehen werden. „Die Schriften von Accra“ können als in die Reden des Kopten verpacktes Zwischenfazit des Lebens von Paulo Coelho gelesen werden. Er zieht einen Strich unter sein bisheriges Werk und fasst nach über 135 Millionen verkauften Büchern zusammen, was wirklich wichtig ist im Leben.

Die Liebe, die Suche nach Glück, Sinn und Halt im Leben – die immer wiederkehrenden philosophischen Motive in seinen Romanen scheinen zwar wie Raben über seinen Büchern zu kreisen. Und immer wieder wird Coelho deswegen kritisiert. Es sei alles zu einfach, zu plump, seine Bücher ähnelten sich und kratzten nur an der Oberfläche. Solche und ähnliche Kommentare prasseln nach jedem neuen Buch auf Coelho ein. Doch weshalb muss kritisiert werden, was Menschen hilft und sehr erfolgreich ist. Der Kopte fragt im Roman, was „Erfolg“ ist, und antwortet sogleich: „Wenn man jeden Abend beim Einschlafen mit sich im Reinen ist – das ist Erfolg“. Die weltweite Fangemeinde des Autors sieht das auch so, sie sucht eben diese Lebenshilfe in den Büchern des Brasilianers, sie träumt von der „alle Menschen vereinende[n] Liebe“.

Und sie findet Hoffnung und Zuversicht, sie ist verzaubert – wissend, „dass man immer bis hinter den bekannten Horizont gehen muss“. Damit sind auch „Die Schriften von Accra“ ein wertvolles Buch, das wachrüttelt, obwohl es so leicht und schnell zu lesen ist. Es lohnt sich, den Roman in die Hände zu nehmen und sich auf die Gedankenreise Coelhos einzulassen. Obgleich „Die Schriften von Accra“ nicht die größte intellektuelle Herausforderung unserer Zeit ist, das Buch hilft dabei, einen Schritt zurückzutreten und das eigene Leben zu betrachten. Der Leser fragt sich hernach wie der Kopte und wie der Autor: Was tue ich hier? Was ist der Sinn? „Die Schriften von Accra“ kann den Blick des Lesers nach innen kehren und eine neue Verbindung zur eigenen Spiritualität schaffen.

Titelbild

Paulo Coelho: Die Schriften von Accra.
Übersetzt aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Diogenes Verlag, Zürich 2013.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068481

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