Vom Rückenakt zur titanischen Täterin

Karoline Künkler hat eine erhellende Studie zu „Destruktivität und Geschlecht in der Bildenden Kunst“ der letzten beiden Jahrhunderte vorgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2008 brachte die Deutsche Post eine Sondermarke mit einem nicht ganz unbekannten Gemälde heraus. Es zeigt einen dem Betrachter zugewandten, leger gekleideten Mann, halb verdeckt von der nackten Rückenansicht einer Frau. Wer in der Kunstgeschichte bewandert ist, wird vielleicht vermuten, was PhilatelistInen aufgrund dieser kurzen Beschreibung schon wissen: dass es sich nämlich um Lovis Corinths „Selbstporträt mit Rückenakt“ handelt. Zu sehen sind der Künstler selbst und der Rücken von Charlotte Berend, der ehemaligen Lieblingsschülerin des Künstlers, der wie viele seiner Zunft um 1900 eine Malschule betrieb. Als er das Bild schuf, trug die angehende Kollegin, deren Schwester Alice später als Schriftstellerin reüssieren sollte, allerdings bereits den Doppelnamen Berend-Corinth, denn er hatte die 22 Jahre jünger Frau nicht etwa zur Malerin ausgebildet, sondern zunächst zum Modell, dann zur Geliebten und schließlich zu seiner Frau und Gehilfin gemacht. Das Bild zeigt das Paar kurz nach der Hochzeit. Wie Karoline Künkler in ihrer Monografie zu „Destruktivität und Geschlecht in der Bildenden Kunst“ konstatiert, hat Corinth die „weiblich-leiblich konnotierte Materie“ mit dem Porträt „symbolisch in Besitz genommen, um die Ehefrau hinfort als Ressource im Dienste seiner Kunst zu ge- und verbrauchen.“

Künklers Untersuchung mit dem Titel „Aus den Dunkelkammern der Moderne“ befasst sich jedoch nicht nur mit Corinths Selbstporträt und dem Rückenakt seiner Gattin, sondern mit einschlägigen KünstlerInnen, Werken und Paarkonstellationen zweier Jahrhunderte, beginnend mit Francisco José de Goyas grotesker Radierung „Disparate Desordenado“ und endend mit den künstlerisch inszenierten Selbstverletzungen der Feministin Gina Pane.

Künkler geht von der Annahme aus, dass Artefakte der Bildenden Kunst „zumindest einen Teil der ‚blinden Flecken‘ erschließen helfen können, die dadurch entstehen, daß die gängige Wahrnehmungskultur auf offensichtliche Erscheinungsformen des Zerstörerischen fixiert ist.“ Denn die Werke der KünstlerInnen können nicht nur „zerstörerische Verhältnisse“ darstellen, sondern auch „zerstörerische Vorstellungswelten präsentieren“ und sich so an der „Hervorbringung von Destruktionsideologien“ beteiligen.

Im Zentrum ihrer Untersuchung stehen detaillierte, jeweils etwa 100 Seiten umfassende Analysen einzelner, ‚westlichem‘ Kunstschaffen entnommene Beispiele aus den „Flächenkünsten“ und der „handlungsbezogenen Aktionskunst“, „in denen sich das Destruktive als anschauliche bildnerische Form präsentiert.“ An ihnen entwickelt die Autorin ihre grundlegenden, meist geschlechtertheoretischen Fragestellungen. Da Künkler davon ausgeht, dass „Strukturieren und Destrukturieren dialektisch aufeinander bezogene Grundformen bildkünstlerischen Vorgehens“ sind, fasst sie die untersuchten Kunstwerke „als anschauliche Beispiele für das Zerstörerische im künstlerischen Prozeß und zugleich für die Möglichkeiten der Kunst, Beziehungen zur jeweiligen Zerstörungskultur herzustellen“ ins Auge.

Die Autorin teilt ihren Untersuchungszeitraum in mehrere „zerstörungsgeschichtliche Phasen“ ein, nach denen sie den Aufbau ihrer Arbeit organisiert. Die erste, durch den „Zusammenbruch maßgeblicher Ordnungssysteme“ geprägte fällt in die Zeit der Romantik und ist durch Goya vertreten, anhand dessen Werk die Autorin „geschichtlich wie kunsthistorisch richtungsweisende Aspekte dieser Veränderung“ verdeutlicht. Die zweite Phase liegt in der Zeit vor und während des 1. Weltkriegs und wird durch das Paar Berend-Corinth repräsentiert. Beiden Phasen widmet Künkler je eigene Kapitel. Im nächsten Abschnitt behandelt sie jedoch nicht etwa die nächste Phase, sondern den Übergang von der zweiten zur dritten, den sie in Georg Grosz personifiziert sieht. Erst dann folgt mit dem KünstlerInnenpaar Hannah Höch und Raoul Hausmann die „dritte von der Weimarer Republik geprägten Phase“. Künkler beschließt ihr Phasenmodell mit der durch die Zweite Welle der Frauenbewegung gegangenen Künstlerin Gina Pane.

Im ersten, Goya gewidmeten Abschnitt bietet die Autorin eine in vielerlei Hinsicht erhellenden Analyse der „disparaten Geschlechtlichkeit“ in Goyas „Disparate Desordenado“, als dessen „Ausgangspunkt und Zentrum“ sie das Weibliche ausmacht. Überzeugend argumentiert Künkler, Goya habe in der „baumartigen Doppelgestalt“, die das Kunstwerk dominiert, der „zutiefst im Unterbewussten der patriarchalischen Kultur beheimateten Angstvorstellung von der weiblichen ‚Wiederaneignung‘ einstiger, vordifferentieller Schöpfungsmacht und von der Rückgängigmachung der siegreichen Patriarchatsgeschichte als schreckbildhafte Vision“ Gestalt gegeben. Goya präsentiere die Figur als „groteskes Sinnbild einer weiblichen Natur, die in dem Maße dämonisch, widernatürlich, pervers wird, in dem sie die Übermacht gegenüber dem Männlichen gewinnt“. Überhaupt herrsche in dem von hybrid-grotesken Wesen bevölkerten Bild eine „zutiefst beunruhigende, keineswegs befreiende Liebes- und Geschlechter-‚Unordnung‘“, „die allen Entwürfen harmonischer Geschlechtlichkeit spottet“.

Befasst sich Künkler im ersten Hauptabschnitt mit einem solitären Künstler, so folgt mit Berend-Corinth und Corinth im zweiten ein KünstlerInnenpaar. Einsprechend fokussiert sie hier nicht nur auf das Produkt des künstlerischen Schaffens – in diesem Falle Corinths –, sondern auch auf die Paarkonstellation, die sich nicht zuletzt in Corinths Werk manifestiert und ausdrückt. In dem 1903 entstandenen Bild hat Corinth Charlotte Berend „durch seine Kunst zu seiner Frau und zum Modell fürs Leben – für seine von Kunst erfülltes und bestimmtes Leben – zugleich gemacht“, wie Künkler treffend formuliert. Allerdings hält die Autorin auch fest, dass Corinth die „Benachteiligung“ Berends ohne deren „Mitwirkung“ nicht hätte „bewerkstelligen“ können. Seine „stillschweigende Respektlosigkeit gegenüber Berend-Corinths kreativem Tun“, die sich etwa darin ausdrückte, dass er ihre Bilder übermalte, dulde sie beispielsweise widerspruchslos. Künkler findet zwar scharfe Worte für Berends „vorauseilende Selbstdisziplinierung“ und die „eheliche Eintracht“, mit der das Paar gemeinsam ihr „künstlerisches Fortkommen“ unterminierte. Doch weist sie ebenso nachdrücklich darauf hin, dass Berends „Kapitulationsbereitschaft“ nicht etwa ein „individueller ‚Defekt’“ war, sondern vielmehr „das nahezu regelmäßig auftretende Resultat einer sozio-kulturellen Ordnung, in welcher der weibliche Drang nach Selbstentfaltung systematisch und in Fürsorge umgebogen wurde“. „Das von der Wilhelminischen Kultur und deren patriarchalischer Geschlechterordnung gestützte Ehemodell“ habe für Corinth gearbeitet, so dass er „für seine Dominanz und die entsprechende Beschränkung seiner Ehefrau allerdings selten aktiv werden musste.“

Nach der Auseinandersetzung mit dem Paar Berend/Corinth folgt im nächsten Kapitel wieder ein männlicher Künstler: George Grosz. In seinem Schaffen wird der Autorin zufolge das „doppelbödige Verhältnis“ der männlichen „Kunstrebellen“ der Avantgarde gegenüber der Destruktivität deutlich. Es betreffe sowohl das Geschlechterverhältnis wie auch die zeitgenössische „politische Gemengelage“ der Zeit des Ersten Weltkriegs. Lebten die Künstler vor und um 1900 ihre Männerfantasien mordender Schönheiten in Femme fatale-Darstellungen etwa der Judith oder der Salomé aus, schufen Grosz, Otto Dix und andere mit dem Lustmörder eine männliche Figur, die „gewissermaßen zum Gegenangriff übergeht“. Mit einem „zerstückelten Frauenkörper“ in Szene gesetzt, bildet er die „Komplementärgestalt“ zur Femme fatale, der etwa als Salomé auf einer Schale ein Männerkopf gereicht wird. Künklers Beweisführung, dass Grosz, Dix und andere Männer der Avantgarde zwar die eine Generation zuvor entstandenen Werke etwa eines Corinth „kritisierten, ja angriffen, deren rückständiges Frauenbild jedoch unangetastet ließen“, bietet keinen Anlass Einspruch zu erheben. Im Gegenteil, man ist aufgrund ihrer Ausführungen sogar eher geneigt, zu der Auffassung zu gelangen, dass die Söhne die Misogynität ihrer Väter noch überboten. Überhaupt scheint es nachgerade so, als übertrumpften die männlichen Künstler jeder Generation die Frauenfeindlichkeiten der vorergehenden in ihren Werken wie auch im Leben.

Künklers nächster Abschnitt gilt mit Hannah Höch und Raoul Hausmann wieder einem KünstlerInnenpaar. Steht im Kapitel über Berend und Corinth der männliche Part im Mittelpunkt ihres Interesses, so diesmal der weibliche. Konzentrierte sie sich dort auf Corinths „Selbstporträt mit Rückenakt“, so hier auf Höchs weitaus elaborierteres, subtileres und vielschichtigeres Werk „Frau und Saturn“, mit dem die Künstlerin nicht nur ebenso wie Corinth einen „Grenzfall“ der Gattung des Selbstporträts geschaffen habe, sondern den „Bildtypus als solchen in Frage stellt.“

Schuf Corinth sein Bildnis zu Beginn der Ehe mit Berend, so Höch ihres am Ende ihrer Liaison mit Hausmann. Ihr MeisterInnenwerk zeigt nicht nur „zwei separate Geschlechterwelten, in denen sich Frau und Mann in unüberbrückbarer, ja feindlicher Gegensätzlichkeit gegenüberstehen“ und die Frau zur „Lebensspenderin“, der Mann hingegen „zum Zerstörer schlechthin stilisiert“ wird. Weit wichtiger ist, dass es Höch darüber hinaus gelungen ist, „den Pinsel zur Waffe ‚umzuschmieden‘, mit der es sich unauffällig, auf feinstruktureller Ebene mit Hilfe von schneidend scharfen Konturen, Überschneidungen und einer darauf aufbauenden Bildsprache der Verletzungen kämpfen und zerstören lässt.“ So verberge sich hinter der „marianische Dulderin“ als die sich Höch porträtierte, eine „titanische Täterin“, die auf dem Gemälde nicht einmal „als destruktiv handelnde Gestalt in Erscheinung tritt, sondern als abstraktes Formgefüge, das unterschwellig zerstörerisch wirkt“, wobei der dargestellte Mann sogar noch „auf dieser Ebene als Angreifer codiert“ ist, „während die Frau nur abzuwehren scheint“. All dies behauptet die Autorin nicht einfach, sondern weist es in einer luziden Bildanalyse vor dem Hintergrund einer umfassenden Kenntnis des „kunsthistorischen Bezugshorizonts“ en Detail nach.

Die Liebesbeziehung zwischen Höch und Hausmann stand unter dem Einfluss des anarchistischen Bohèmien und Psychoanalytikers Otto Gross, Hausmanns erotischem Lehrer und Vorbild. So handelte es sich bei diesem Verhältnis denn auch nicht etwa um eine Paarbeziehung – immerhin war Hausmann verheiratet. Was nun besagten Otto Gross betrifft, kann man mit der Darstellung Künklers einmal nicht d’accord gehen, stellt sie ihn doch allzu unkritisch, ja positiv dar. Tatsächlich aber war er kein geringerer Frauenverachter als Hausmann, nur verstand er es besser als dieser, seine Misogynität unter einer Verkleidung als Matriarchatsverfechter zu camouflieren. Gross und Hausmann waren zwar beide verheiratet, doch frönten sie der ‚Freien Liebe‘ das heißt sie hielten sich neben der Ehefrau noch eine oder mehrere Geliebte, die ihnen nicht selten zugleich Handlangerin und Gehilfin sein sollten. Zwei solche von Gross geschwängerte Frauen überlebten seine ‚Freie Liebe‘ nicht. Gross legte ihnen erfolgreich den Suizid ans Herz und das Gift dazu in die Hand. Hausmann wiederum „schlug und vergewaltigte“ Höch immer wieder. Höch suchte die Schuld dafür bei sich selbst und fürchtete „nicht genug ‚Leidenschaft‘“ zu haben und „vermutete generell, ‚zu wenig Weib‘ zu sein“. Umso leichter war es für den „Brachial-Maieutiker“ Hausmann, sich mit seinen Vergewaltigungen als „Befreier ihrer ‚weiblichen‘ Sexualität“ zu „gerieren“. Dass er bei alle dem auf „Rückhalt im dadaistischen Männerzirkel“ rechnen konnte, kann kaum überraschen.

Mag Künkler auch allzu viel Nachsicht gegenüber Gross üben, so wirft sie immerhin ein erhellendes Licht auf Hausmanns verkappte Frauenfeindlichkeit, der gegenüber sich Silke Wagner in ihrer Höch und ihm gewidmeten Doppelbiografie jüngst noch allzu verständnisvoll zeigte. Da, wo Silke Wagener Hausmann gegenüber allzu Verständnisvoll ist, stellt Künkler dessen verkappte Frauenfeindlichkeit umso heller ins Licht.

Auch der letzte Abschnitt des Buches reiht sich in den Wechsel zwischen KünstlerIn und KünstlerInnenpaar ein und gilt diesmal wiederum keinem Paar, sondern einer einzelnen Person. Die allerdings ist mit Gina Pane erstmals eine Frau. Die „aktionistische Schaffensperiode“ der dem Feminismus verbundenen Künstlerin war durch Selbstverletzungen geprägt, die sie sich vornehmlich mit dem männlich konnotierten Werkzeug der Rasierklinge zufügte. Künkler weist darauf hin, dass sich die Künstlerin besonders oft in Körperregionen schnitt, „die mit der menschlichen Zeichenproduktion zu tun haben und besonders schmerzempfindlich sind.“

Pane verband Künkler zufogle „kunst- und geistesgeschichtliche Elemente der christlichen Martyrologie und Eschatologie mit Aspekten aus dem politischen und theoretischen Kontext ihrer Zeit.“ Signifikanter vielleicht ist noch, dass Pane anders als viele feministische Künstlerinnen der 1970er- und 1980er-Jahre die „patriarchalische Stigmatisierung“ in ihren selbstverletzenden Werken weder „dementierte“, noch „Visionen ‚intakter‘ Weiblichkeit“ entwarf. Dennoch seien die Aktionen „innerhalb der feministischen Kunstwissenschaft tendenziell positiv bewertet“ worden. Künkler selbst aber findet sie eher „bedenklich“, was durchaus nachvollziehbar ist. Ebenso „zweischneidig“ wie ihr „Selbstverletzungsinstrument“ sei insbesondere, dass Panes „Frauenhand die männlich konnotierte Rasierklinge verwendet, um das Weibliche über den Schnitt zu definieren, der phänomenologisch betrachtet doch Spaltung ist.“ Daher stellt Künkler die Frage in den Raum, „ob andere Präsentationsformen nicht mehr emanzipatorisches Potential haben“, wie beispielsweise  Valie Exports „Aktionshose von ‚Genitalpanik‘“.

Mag es auch bedauerlich sein, dass Künkler die eine oder andere Künstlerin und ihr einschlägiges Werk nicht heranzog, wie etwa Pippilotti Rists Blumenvideo, in dem ein von Frauenhand geführtes weiblich konnotiertes Utensil ein männlich konnotiertes Potenzsymbol überraschend beschädigt, so sind ihre Bildanalysen doch ausnahmslos ebenso gründlich wie erhellend und ihre auch für Laien ohne weiteres verständlichen Argumente glasklar. Dafür ist dem Buch großes Lob und seiner Autorin großer Dank zu zollen.

Titelbild

Karoline Künkler: Aus den Dunkelkammern der Moderne. Destruktivität und Geschlecht in der Bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderst.
Böhlau Verlag, Köln 2012.
636 Seiten, 64,90 EUR.
ISBN-13: 9783412180058

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