Utopie der Befreiung

Pierre Bourdieus Studie über „Die männliche Herrschaft“

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jede geschichtliche Herrschaft findet irgendwann einmal ihr Ende. Erstaunlich langlebig scheint dagegen die Herrschaft des Mannes über die Frau, so langlebig und unabhängig von allen sozialen Veränderungen, dass sie ahistorisch erscheint, gleichsam natürlich, biologisch. Und noch mehr: Die Gewalt, in der sich das Herrschaftsverhältnis Tag für Tag manifestiert, wird als solche nicht nur kaum bemerkt, sondern von den Beteiligten unterstützt und dadurch reproduziert. Gründe hierfür erörtert der Soziologe Pierre Bourdieu in seinem 1998 erschienenen Spätwerk „Die männliche Herrschaft“. Implizit vorausgesetzt ist hier die Annahme, dass die Permanenz der männlichen Vormachtstellung konstruiert ist – nicht also biologisch sinnvoll oder gar notwendig. Wie viel Einsicht in diese Überlegung versteckt sich doch selbst in der Forderung des alten Briest: „Weiber weiblich, Männer männlich.“ – vermittelt sie doch indirekt, dass es auch anders gehen könnte.

Bourdieu versteht Herrschaft im Weber’schen Sinne: „daß ein bekundeter Wille (,Befehl‘) des oder der ,Herrschenden‘ das Handeln anderer (des oder der ,Beherrschten‘) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflußt, daß dies Handeln, in einem sozial relevanten Grade, so abläuft, als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hätten.“ (Max Weber: „Wirtschaft und Gesellschaft“) Dass die Herrschenden für ihre Befehle bei den Beherrschten Gehorsam finden, begründet folglich überhaupt erst ihre Herrschaft.

Um aber Herrschaftsstrukturen erkennen zu können, müssen Erkenntnismittel zur Verfügung stehen, die sich aus anderen Kategorien speisen als aus denen, die von diesen Herrschaftsstrukturen produziert wurden. „Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt“, heißt es bei Sigmund Freud – wer androzentrisch denkt, also in Einteilungsprinzipien, die dem Natürlichen gleichsam abgelauscht scheinen, kann nicht die Willkür erkennen, die hinter Zuordnungen wie „träumerisch“ gleich „weiblich“ oder „zupackend“ gleich „männlich“ wirkt.

Die Methoden, mit denen erreicht wird, dass die Beherrschten ihre Herrschaft annehmen und unterstützen, grenzen an Magie – und es ist eine Magie der Verinnerlichung: Die Bewertungs- und Wahrnehmungsschemata sind uns unbewusst, so dass sie unsere Erkenntnis erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen. Institutionen wie Schule, Kirche und Staat sind derart verfasst, dass sie die Muster der Erkenntnis verstärken und stets aufs Neue in ihren Untergebenen produzieren. Diese Schemata aufzudecken hat sich Bourdieu in seiner Schrift zur Aufgabe gemacht. Bewusst werden soll, dass die von unserem Erkenntnisapparat vorgenommene Dichotomie der Dinge und Aktivitäten wiederum willkürlich ist. Dass wir den Sphären männlich/weiblich homologe Gegensätze zuordnen wie hoch/tief, oben/unten, rechts/links, hart/weich, will uns zwar objektiv notwendig erscheinen, ist aber doch „nur“ ein konventionelles Spiel von Metaphern, die alles andere als von der Natur vorgegeben sind. Sinn und Ziel dieser nicht nur sprachlich sich niederschlagenden Einteilung ist nach Bourdieu die Rechtfertigung von Herrschaft: „Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische symbolische Maschine zur Ratifizierung der männlichen Herrschaft, auf der sie gründet.“ Die sprachliche Seite ist gleichsam Ausdruck und Bewahrer einer solchen Struktur, die sich im Leben der Menschen äußerst handfest offenbart, ihnen den Bereich ihrer Möglichkeiten vorschreibt, sie zugleich ausrichtet und einschränkt auf die soziale Rolle, die sie gemäß der Ordnung einzunehmen haben.

Bourdieu geht hier vor allem auf die geschlechtliche Arbeitsteilung ein, nicht nur im Beruf, sondern auch im Haus. Wer welche Tätigkeiten verrichtet, sei nicht seinen oder ihren jeweiligen Fähigkeiten geschuldet, sondern den körperlichen Geschlechtsmerkmalen, die er oder sie aufweist. Somit diene der rein biologische Unterschied zwischen den Geschlechtern (sexes) als quasi natürliche Rechtfertigung eines konstruierten Unterschieds im Sinne des Begriffs genre. Gemeinhin spricht man der genetischen Ausstattung, die sich in Anatomie, Seelenleben und Sozialverhalten eines Menschen zeige, die Hauptursache dafür zu, dass „Männer männlich“ und „Weiber weiblich“ sind (und sein sollen), also vernünftig, stark, äußerlich, aktiv beziehungsweise sensibel, schwach, innerlich, passiv. Bourdieu aber spricht dieser Dichotomie den Status einer gesellschaftlichen Konstruktion zu, die ihre Kategorien wiederum aus Denkweisen generiert, die wiederum in den verschiedenartigen sozialen Status wurzeln, der Mann und Frau jeweils traditionell zugewiesen werden. Ein Teufelskreis der Verschleierung und somit der Reproduktion von Herrschaft.

Bourdieu nutzt seine Erfahrungen über die ethnologischen Strukturen bei den algerischen Kabylen als Folie für seine soziologische Analyse, allerdings nicht stringent und dadurch in ihrer Erhellungskraft vermindert. Gleichwohl muss es einer ehrgeizigen Zivilisationskritik zur Bestätigung gereichen, dass die Strukturen nordafrikanischer Berbervölker für einen erkenntnisfördernden Vergleich mit modernen westlichen Gesellschaften herhalten können. Bestechend sind Bourdieus Analysen über die sichtbare und die unsichtbare Gewalt, die sich den Körpern nicht nur der Beherrschten, sondern auch der Herrschenden, einschreiben – wie viel Gewalt liegt doch in der Fähigkeit der Gesellschaft, ihren Akteurinnen und Akteuren körperliche Haltungen vorzuschreiben oder zu untersagen. Bourdieu nennt auch die praktischen Prinzipien, in denen sich die Struktur der geschlechtlichen Teilung im Arbeitsleben zeige: Frauen fänden ihr Betätigungsfeld in einer Erweiterung des häuslichen Bereichs (Krankenhaus, Schule); ihre Arbeit sei untergeordnet und habe Hilfscharakter; der Mann habe das Monopol auf den Umgang mit Maschinen und Technik.

Heute, fünfzehn Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, sind Bourdieus Erkenntnisse, wenn nicht veraltet, so auf seltsame Weise unspektakulär, scheinen sich doch die analysierten Strukturen in einigen Bereichen westlicher Kulturen langsam zu verändern. So zutreffend für die weitaus meisten Gesellschaften der Erde seine Beobachtungen auch heute noch sein mögen, so verblasst in ihrer Originalität wirken sie auf die deutschsprachigen gender-sensiblen Leserinnen und Leser. Das mag auch daran liegen, dass die Erkenntnisse in „Die männliche Herrschaft“ sich vorwiegend auf das Heimatland ihres Verfassers beziehen, das kenntnisreiche Beobachterinnen und Beobachter noch immer als paternalistischer und patriarchaler strukturiert beurteilen als das heutige Deutschland. Wie anachronistisch mögen Bourdieus Beobachtungen erst dem skandinavischen Auge erscheinen?

Gleichwohl herrscht auch hierzulande und heutzutage die Ansicht vor, die Einteilung der Gesellschaft und ihrer Akteurinnen und Akteure sei nicht nur biologisch motiviert, sondern gewissermaßen determiniert. Dass eine Frau sich nach der Geburt um das Kind kümmere, sei eben von der Evolution vorgesehen – da sie eine engere Verbindung zu dem Kind aufbauen könne, von Natur her sensibler sei und es in ihrem Wesen verankert sei, sich um andere zu kümmern. Wie befreiend die Einsicht sein kann, dass auch evolutionär begründet anmutende Strukturen durchaus sozial konstruiert und kontrolliert sein könnten, somit also willkürlich wären, lässt die Lektüre von Bourdieus Traktat erahnen. Welch ungeahnten Möglichkeiten könnten einer Gesellschaft, könnten sowohl Herrschenden und als auch Beherrschten aus einer Befreiung vom Gehorsam erwachsen?

Titelbild

Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft.
Übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Bolder.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
211 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296318

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