Der (Musik-)Dramatiker als Schriftsteller

Eine Auswahlausgabe erlaubt es, die literarische Seite Richard Wagners zu entdecken

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zusammenstellung, die Philipp Werner für die „Ausgewählten Schriften und Briefe“ Richard Wagners erarbeitet hat, lässt sich im Grunde gar nicht kritisieren. Denn wie bei jeder Anthologie könnte man auch hier das Fehlen dieses oder jenes Textes vermissen und diese oder jene Schrift für entbehrlich halten. Man könnte auch auf das ewig gleiche Muster der Jubiläen hinweisen, auf die Flut von Veröffentlichungen, und den Sinn und Zweck der Anthologie generell hinterfragen. Könnte man. Es geht aber auch anders.

Richard Wagner, der jedem als Komponist ein Begriff ist, war ein unerhörter Vielschreiber – was wiederum nur einigen wenigen Fachleuten bekannt ist. Seine „Sämtlichen Schriften und Dichtungen“, die eine Neuausgabe verdient hätten, füllen ganze sechzehn Bände, von den Briefen ganz zu schweigen. Ein riesiger Fundus also, von der Forschung kaum erschlossen, von der Öffentlichkeit vollständig übersehen. Das ist, ohne das Lied des vergessenen Werks eines großen Künstlers singen zu wollen, bedauerlich. Nicht nur, weil man sich die mitunter grenzwertig barock-üppigen Wortkathedralen des späten Kunsttheoretikers und „Parsifal“-Komponisten entgehen lässt (auf die mancher wohl getrost verzichten könnte, obwohl sie äußerst interessant sind), sondern auch – und gerade! – weil man den jungen Wagner nicht kennenlernt, dessen Erzählungen und Novellen großartig geschriebene Schätze sind, humorvoll, leicht und mit Heine’scher Anmut Wagner’sche Grundideen durchspielend.

Beide Seiten präsentiert nun Werners Auswahl, deren einzig nennenswerter Mangel es ist, dass die ersten Texte noch aufeinander verweisen, sich gegenseitig ankündigen, während später – wo man sich mit entsprechenden Briefen noch behelfen könnte – oft genug ein Blick auf die angehängte Chronologie den inneren Zusammenhang in der thematischen und biografischen Vielfalt ersetzen muss.

Am Anfang steht die „Autobiographische Skizze“, die der fast Dreißigjährige mit den ganz bescheidenen Worten einleitet: „Ich heiße Wilhelm Richard Wagner, und bin den 22. Mai 1813 in Leipzig geboren.“ Sie leitet zu einem Bittbrief an Giacomo Meyerbeer über, dessen Opern gewaltige Erfolge in Paris feierten, und gegen den der Theoretiker (und Antisemit) Wagner später wettern wird. Daran schließt sich wieder ein Auszug aus der Skizze an, die berichtet, wie es mit Meyerbeer und Paris weiterging – nämlich nicht gut, sowohl künstlerisch als auch finanziell, sodass der junge Musiker sich auf’s Novellenschreiben verlegen musste.

Und hier stößt der Leser nun auf das Juwel der Anthologie: „Eine Pilgerfahrt zu Beethoven“, entstanden 1840. Wagner erzählt die Geschichte des jungen Beethoven-Anhängers R., dessen größter Wunsch es ist, sein Idol in Wien zu besuchen. Mit musikalischen Nichtigkeiten verdient er sich das nötige Geld, begibt sich zu Fuß auf die Reise und – begegnet einem reichen Engländer, der ebenfalls zum Komponisten unterwegs ist. Die beiden liefern sich ein Katz-und-Maus-Spiel, denn Beethoven, der wild wirkende alte Mann, empfängt keinen Besuch, seitdem regelmäßig englische Touristen sein Haus belagern. R. bemüht sich redlich um eine Audienz, während der Engländer sich an seine Fersen heftet und ihm jede Gelegenheit zunichte macht. Mit hinreißender Leichtigkeit und voller Witz lässt Wagner auf diesen fünfundzwanzig Seiten die beiden miteinander ringen, um am Ende, ganz nebenbei, schon erste Ansätze seiner späteren Theorie des Kunstwerks der Zukunft einfließen zu lassen. So voller Esprit erlebt man ihn nie wieder.

Danach folgen einige Briefe und erste theoretische Arbeiten. Man merkt, wie der Stil langsam umständlicher wird, zugleich entdeckt man aber auch immer wieder humoristische Züge, etwa im Brief an Carl Friedrich Meser, der eigentlich nur eine kurze Notiz mit Bitte um Geld ist, an die sich dann aber fünf Nachträge anhängen, in denen der Bittsteller, der „im sehr teuern Bade Marienbad mit seinem Gelde nicht auskommend[e] ganz ergebenst[e] Richard Wagner“, Details zur Transaktion liefert und plötzlich auch noch von seinem Kuraufenthalt berichtet.

Dann nähert man sich dem Revolutionsjahr 1849, die Politik hält Einzug in das Schreiben, der Künstler wird zum Denker der Gesellschaftsverhältnisse. Schon ein Jahr später, in Zürich, wird er seine großen kunsttheoretischen Schriften verfassen, von denen die Anthologie zwei in Auszügen präsentiert. Gesamtkunstwerk und Kunstwerk der Zukunft sind die Stichworte, die reiche Kenntnisse und ein mitunter etwas fahriges Denken beweisen, hochinteressant sind, aber für das Werk, vor allem für den „Ring“, nur wenig Hilfe bieten. Aber wer erwartet auch, dass der Künstler als Ästhetiker sein Werk seziert?

Ein großer Teil der Sammlung ist schließlich dem Festspielgedanken gewidmet. Es lässt sich gut nachverfolgen, wie aus der ersten Idee (eine lose Bretterbude, einmalige Aufführung, anschließendes Verbrennen der Partitur) schließlich das Bayreuther Projekt wird, wie Wagner zum Unternehmer wurde, und wie man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fundraising (ein Wort des Herausgebers) betrieb. Am Ende stehen dann die Texte aus dem näheren und weiteren Umfeld des „Parsifal“: „Wollen wir hoffen?“, „Religion und Kunst“ sowie „Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth 1882“. Hier verliert sich jeder Stil, innerer Zusammenhang geht in allumspannender Üppigkeit auf – nichts ist geblieben von dem geistreichen Novellenautor der frühen Pariser Jahre.

Und was fehlt? Friedrich Nietzsche zum Beispiel. Keine Erwähnung, kein Hinweis findet sich in den ausgewählten Texten, gerade so, als ob es nie die Tribschener Besuche gegeben hätte. Und, vielleicht noch befremdlicher, die antisemitischen Schriften, auf die der Herausgeber verzichtet hat, weil sie so kommentierungsbedürftig sind, dass sie jeden Rahmen gesprengt hätten. Man mag das, wie eingangs gesagt, bedauern. Aber das ändert nichts daran, dass die Sammlung ihrem Leser viele Facetten eines Künstlers vorführt, der weit mehr als nur Komponist, Revolutionär und Judenhasser war. Dass manche – vor allem die frühen – Texte Wagners nicht schlechter sind (und auf ihre eigene Art vielleicht sogar besser) als seine großen Dramen (um den Ausdruck zu gebrauchen, mit dem er selbst sich meist behalf), zeigt sich hier sehr eindrücklich. Gerade darum ist an dieser Auswahl nichts zu bemängeln, und gerade darum sei sie jedem empfohlen, auch dem, der mit dem Komponisten nicht warm werden will.

Titelbild

Richard Wagner: Ausgewählte Schriften und Briefe.
Herausgegeben von Philipp Werner.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
348 Seiten, 10,99 EUR.
ISBN-13: 9783596905249

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