Kontinuitäten napoleonischer Herrschaft?

Anika Bethan stellt Erinnerungen an das Königreich Westphalen vor

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Königreich Westphalen hat seit einigen Jahren verstärkt Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 1807 gegründet, sollte es unter Napoleons Bruder Jérôme eine zentrale Funktion bei der Neuordnung dessen, was das Deutsche Reich gewesen war, erfüllen. Das Vorhaben, einen modernen Musterstaat einzurichten, scheiterte aus verschiedenen Gründen, von denen der wichtigste der Zeitmangel ist. Bereits mit dem gescheiterten Russlandfeldzug 1812/13 brach die napoleonische Hegemonie in Mitteleuropa zusammen. Doch schon zuvor hatten die Truppen und Güter, die Westphalen für Napoleons Politik stellen musste, das Königreich an den Rand der Pleite gebracht. Der an sich fortschrittliche Gedanke, mit moderner Verwaltung und Gesetzgebung die Überlegenheit der französischen Politik zu beweisen, war unter diesen Bedingungen kaum umzusetzen. Bedeutende Teile der Bevölkerung lehnten das neue System ab – noch kaum aus deutschnationalen Gründen, doch teils aus Bindung an die alten Dynastien, teils wegen der konkreten Härten, die Napoleons Politik mit sich brachte.

Anika Bethan befasst sich in ihrer Berliner Dissertation mit der kurzen Geschichte des Königreichs nur insofern, als diese den Nachwirkungen zugrundeliegt, um die es ihr geht. Der Fokus auf „Erinnerungen“, die auch hier im Untertitel genannt werden, hat Konjunktur in der Geschichtswissenschaft, nicht immer zu deren Besten. Bethan entgeht der Gefahr kulturwissenschaftlicher Beliebigkeit, die in diesem Trend liegt. Sie hält sich eng ans überlieferte Material, berücksichtigt die Interessenlagen derer, die da schrieben, und hat doch Mühe, das Gemeinte zu erschließen. Denn wer sich nach 1813 ans Königreich Westphalen erinnerte, tat dies aus einer Perspektive, die in jedem Fall Gefahren einschloss.

Westphalen war aus Teilen früherer Territorien zusammengefügt worden und wurde wieder auf Einzelstaaten aufgeteilt, in denen dynastische Traditionen fortgeführt wurden, als sei nichts geschehen. Bethan weiß zu zeigen, dass der Grad an personeller Kontinuität im Militär- und Beamtenapparat hoch war, daß – je nach Land in unterschiedlichem Maße – administrative Neuerungen nach dem Zusammenbruch des Königreichs 1813 fortgeführt wurden beziehungsweise später von der höheren Beamtenschaft in spätere Verfassungsdiskussionen eingebracht wurden.

Sogar in Hessen-Kassel, wo das Königreich Jérômes nicht als legitimer Staat anerkannt wurde, konnten Ansprüche aus jener Zeit zum Gegenstand von Gerichtsverfahren werden. Rechtsfähig waren nicht nur Vertreter der Beamtenschaft und Käufer von Domänen aus westphälischer Zeit, die sich 1813 enteignet fanden, weil nun das aus zuvor fürstlichem Besitz verkaufte Land nach gültiger Rechtsauffassung gar nicht Eigentum der Verkäufer war. Ebenfalls rechtsfähig waren Invaliden aus Napoleons Feldzügen, unterstützt von städtischen Vertretern, die wohl darauf hofften, dass eine staatliche Pension die lokale Armenfürsorge entlasten würde.

So sehr einerseits offiziell an die dynastische Tradition bis 1806 angeknüpft wurde: Bethan weiß zu zeigen, dass tatsächlich ein modernes Rechtsdenken längst unumkehrbar Einzug gehalten hatte. Preis der Kontinuität über 1813 hinaus war freilich der Verzicht auf eine grundlegende Opposition. Wer seine Rechte juristisch einforderte, tat dies mit positivem Bezug auf die bestehenden Verhältnisse. Im Buch wird nicht recht klar, in welchem Maße hier dennoch eine westphälische Identität gewahrt blieb. Soldaten, die von Napoleon auf dem spanischen und dem russischen Kriegsschauplatz eingesetzt worden waren, hatten immerhin ein gemeinsames Erlebnis, mochte dies auch sowohl aus deutschnationaler wie auch aus landesherrschaftlicher Perspektive auf der falschen Seite stattgefunden haben. Die westphälischen Beamten waren viel isolierter gewesen. Zumeist stützten sie die wenigen ihrer Vertreter, die nach 1813 Probleme bekamen. Doch taten sie dies mit der konformistischen Argumentation, es sei nur darum gegangen, von Land und Bevölkerung Übel abzuwenden. Zu einer eigenen Organisation fanden nur die Domänenkäufer; doch versucht man in einem Rechtsstreit, die bestehende Rechtsordnung im eigenen Interesse zu deuten, nicht aber, eine vergangene Ordnung zu preisen. So ist auch hier ein offen positiver Bezug auf das Königreich Westphalen nicht zu erwarten.

Komplizierter noch steht es um die Beteiligten an den Revolten, die es 1806, 1809 und in der Endphase des Königreichs gab. An sich hätten die Aufständischen, aus Sicht der Sieger, auf der richtigen Seite stehen müssen. Doch ist aus der Sicht von oben einem rebellierenden Volk wenig zu trauen und repräsentierten die Beamten, gegen die sich 1813 mancherorts der Zorn richtete, in Einzelfällen sogar die Kontinuität der Verwaltung. Als Kompromiss gab es milde Strafen gegen diejenigen, die 1813 Selbstjustiz geübt hatten, und für die Aufstände lange Zeit ein geteiltes Gedenken, das militärische und dynastisch legitimierte Aktionen begünstigte: die Kämpfe des Obristen Wilhelm von Dörnberg und die der „Schwarzen Schar“, ein Freikorps unter dem Kommando des Herzogs von Braunschweig-Oels.

Anika Bethan hat umfassendes Quellenmaterial und eine beeindruckende historiografische Fülle aus dem 19. Jahrhundert ausgewertet, das auch die französische und britische Erinnerung an das Königreich Westphalen einschließt. Es ist arbeitsökonomisch verständlich, dass sie private Aufzeichnungen wie Briefe und Tagebücher nur am Rand beachtet hat. Doch hätte vielleicht gerade dieses Material Einblicke eröffnet, ob und inwieweit es unterhalb der offiziellen Erinnerung und über notwendig taktisches Argumentieren hinaus nach 1813 positive Bezüge auf das Reformkönigreich gab. Die Frage, ob es informelle Netzwerke westphälischer Beamter gab, die auf spätere Modernisierungsversuche einwirkten, bleibt unbeantwortet. Hier ist noch Raum für weitere Forschung.

Titelbild

Anika Bethan: Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen.
Schöningh Verlag, Paderborn 2012.
365 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783506774118

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch