Der Weg der Philosophie in vier raumgreifenden Schritten

Kennys Geschichte der abendländischen Philosophie liefert eine Synthesis von Historie und Systematik für Leser mit Vorkenntnissen

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach dem, was zur Philosophie hin- oder zum Philosophieren antreibt, wurde in der Geschichte oft gestellt und ebenso oft beantwortet. Sir Anthony John Patrick Kenny – der Altmeister der zeitgenössischen Philosophiegeschichtsforschung und -schreibung, stellt die Frage nach dem, was uns zur Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie treibt, an den Anfang seines vierbändigen Werkes und liefert mit ihrer Beantwortung zugleich das grundlegende Paradigma zur Abfassung und Aufteilung desselben.

Zwei Wege führen demnach zur Philosophiehistorie: Einerseits das eher historisch motivierte Interesse an vergangenen Epochen, deren Eigenart sich nicht allein durch die Kenntnis dessen erschließt, was sich in ihnen ereignet hat, sondern weit besser noch durch die Kenntnis dessen, was in ihnen und durch die führenden Köpfe der Zeit gedacht und geschrieben wurde. Andererseits das eher philosophisch-systematische Interesse an Kernfragen der Philosophie, das danach strebt, die unterschiedlichen Weisen ihrer Beantwortung auch historisch zu kontextualisieren und auf diesem Weg das Denken vergangener Zeitläufte für aktuelle Debatten zu aktualisieren und fruchtbar zu machen.

Keiner der genannten Wege zur Beschäftigung mit der Geschichte des philosophischen Denkens erweist sich nach Kenny isoliert als Königsweg. Wer nur die Geschichte ohne profunde Kenntnis der Sachfragen betrachtet, bleibt zwangsläufig an der Oberfläche – so wie der des Kochens Unkundige ohne Zweifel am Projekt einer Historie der Kochkunst scheitern muss. Wer hingegen nur am Rückbezug aktueller Fragen auf die Geschichte möglicher Antworten Interesse zeigt, läuft Gefahr, historische Bedingungen bestimmter Denkansätze zu verkennen oder – schlimmer noch – jetztzeitige Sichtweisen auf die Vergangenheit zu projizieren. Ungeachtet dieser Gefahren haben beide Ansätze, Philosophiegeschichte zu studieren, ihre Berechtigung – und diese Berechtigung findet ihren Niederschlag in der grundlegenden Dichotomie des Werkes. Jeder der vier Bände ist in einen historisch-chronologischen Teil, der die Viten und Werke der Denker wie Perlen auf den Zeitstrahl fädelt, und einen systematischen Teil gegliedert, der in der Behandlung einzelner Sachprobleme, Problemfelder oder Themengebiete wie etwa Gott, Seele und Geist oder Ethik ebenfalls chronologisch verfährt.

Die ersten Teile der vier Bände spannen ihren Jahrhunderte übergreifenden Bogen von den Milesiern bis zu Augustinus, im Band zum Mittelalter von diesem bis zu Kajetan und Pomponazzi als Vertretern des neu erstarkten Aristotelismus in der Renaissance, hernach von Erasmus von Rotterdam bis zu Hegel und im Band zur Moderne schließlich von Jeremy Bentham bis hin zu Jaques Derrida. Die Kapitel der systematischen Teilbände widmen sich allen großen Themenfeldern der Philosophie mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten, die durch die Strömungen in den beschriebenen Epochen bedingt sind – etwa bei formaler Logik und Sprache im Falle der Moderne.

Diese Zweiteilung ist sachdienlich für alle Leser, die Kennys Philosophiegeschichte nicht von der ersten bis zur letzten Seite durchlesen, sondern am Speziellen, etwa der Logik der Spätscholastiker, Schopenhauers Ästhetik, den neuzeitlichen Sichtweisen der Substanz oder der Frage, warum Literaturwissenschaftler Derrida spannender finden als die Philosophen, interessiert sind. Dennoch fordert Kenny nicht allein von dem Geschichtsschreiber, der den Fäden im Gewand der Dame – oder je nach Epoche der Magd – der Philosophie folgt, Historiker und Philosoph zugleich zu sein, sondern auch von dem Leser, der seiner Führung auf diesem Weg vertraut. Historischer und systematischer Teil sind wechselseitig aufeinander bezogen, und wer tiefer eindringen will, sollte sie beide zu Rate ziehen. Nur über die vielzitierte Hintertreppe lässt sich kein wirklicher Zugang zu der Tiefebene des Denkens in den Jahrtausenden seit Thales erlangen.

Die Aufteilung in vier starke Bände ermöglicht es dem Autor, auch Denkern einen Platz zu geben, die es in einer weniger raumgreifenden Geschichte der Philosophie des Abendlandes allenfalls in eine längere Anmerkung geschafft hätten. Kennys Werk vermag zudem dadurch zu begeistern und zur Erweiterung der Kenntnisse seiner Leser beizutragen, dass er im Zuge seiner Darstellung stets Stellung bezieht. Er schreibt als Historiker und Philosoph. Dies kann ungemein erfrischend und auch erheiternd sein, etwa wenn Derridas Methodik mittels derselben entlarvt wird. Auch wenn die meisten Kapitel intelligent zu unterhalten vermögen, Überschriften wie Augustins über Lügen, Mord und Sex spannende Lektüre verheißen und Gedichte sowie zahlreich eingestreute Illustrationen als Oasen kurzer Erholung in der theoretischen Bleiwüste nicht gänzlich fehlen, macht Anthony Kenny in keinem der vier Bände einen Hehl daraus, dass ansprechender Stil und virtuose Sprache mit hohem Anspruch einhergehen. Die Bände bieten als Ergänzung zwar Zeittafeln und Bibliografien zum weiterführenden Studium – eine Einführung in philosophische Terminologie für gänzliche Laien enthalten sie nicht. Manches wird schlicht als bekannt vorausgesetzt. Dass die primäre Zielgruppe Studierende der Philosophie oder nahe verwandter Fächer im zweiten oder dritten Studienjahr sind, wird klar und deutlich gesagt. Dies sollte jedoch keinen an Philosophie und ihrer Geschichte ernsthaft interessierten Leser abschrecken. Was Sir Kenny nicht mitgibt, ist andernorts wohlfeil zu haben.

Die Übersetzung aus dem Englischen von Manfred Weltecke ist geschmeidig, durchweg gut lesbar und Passagen, an denen die Übertragung ins Deutsche dem Verständnis abträglich ist, bleiben die Ausnahme. Auffallend und gemessen am sonstigen Eindruck und Anspruch des Werkes störend ist, dass die Deutsche Ausgabe nicht restlos sauber redigiert wurde. So finden sich noch zu viele Tippfehler oder – für pingelige Leser ein echtes Makel – umgangssprachliche Standards wie „in keinster Weise“ (dass der Duden diese Schreibweise als satirische Überhöhung zulässt, rechtfertigt in keiner Weise deren Verwendung im Kontext). Derlei wirkliche Kleinigkeiten sind jedoch kaum in der Lage, den Gesamteindruck des Werkes nachhaltig zu schmälern. Gerade der letzte Band vermag auch bei philosophisch interessierten und vorgebildeten Lesern, die der analytischen Tradition der Philosophie bis dato eher fernstanden, eine echte Begeisterung für die jüngste Epoche der Geschichte ihres Fachs zu wecken.

Sir Anthony Kennys vierbändiges opus magnum zur Geschichte der abendländischen Philosophie befriedigt mithin, sowohl inhaltlich wie auch aufseiten der Sprache das Desiderat eines neuen Standardwerkes der Philosophiegeschichtsschreibung auf der Höhe der Zeit.

Titelbild

Anthony Kenny: Geschichte der abendländischen Philosophie. Antike - Mittelalter - Neuzeit - Moderne. 4 Bände.
Übersetzt aus dem Englischen von Manfred Weltecke.
Primus Verlag, Darmstadt 2012.
1408 Seiten, 99,90 EUR.
ISBN-13: 9783863123390

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