The Return of „Helter Skelter“

Madison Smartt Bells Meditation über Gewalt in dem Roman „Die Farbe der Nacht“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Ereignisse der nordamerikanischen Geschichte markieren die Pole, zwischen denen der Roman von Madison Smartt Bells oszilliert. Einerseits sind es die Verbrechen der Charles Manson „Familie“, die sogenannten „Helter Skelter“-Morde im Jahr 1969. Den anderen Pol bilden die Ereignisse vom 11. September 2001, die Attentate auf das World Trade Center in New York. Protagonist des vorliegenden Romans von Madison Smartt Bell ist Mae, eine der beiden angeblich bei den „Helter Skelter“-Morden entkommenen Frauen. Beide Frauen sind nach den Verbrechen untergetaucht und leben anonym und unter falschem Namen in verschiedenen Staaten der USA.

Der Erzähler lässt seine Geschichte im September 2001 beginnen. Mae bemerkt in einem Fernsehbericht über das Attentat auf das World Trade Center ihre ehemalige Mitstreiterin und Mittäterin aus der Manson-„Familie“ und beauftragt eine Detektei mit der Suche nach ihrer einstigen Freundin. Als diese gefunden wird, macht sie sich auf den Weg. Im Gepäck hat sie eine Videoaufnahme, die sie nach dem Anschlag auf das World Trade Center zusammengestellt hat: „Nach vier Stunden hatte ich ein perfektes Zweistundenband zusammenmontiert, ohne Kommentare oder Interviewgequatsche oder Lauftext am unteren Bildrand. Dann lehnte ich mich zurück und sah es mir an. Die Flugzeuge rissen Stücke aus den Flanken der Türme, die herrlichen roten Flammenwände tosten auf, und die Sterblichen wurden aus den glitzernden Fenstern geschleudert wie wirbelnde Seifenflocken in einer Schneekugel.“

Der zweite Erzählstrang liegt in der Vergangenheit, in der Zeit, als die Protagonistin Mitglied der Gruppe um Charles Manson war: „Vielleicht war ich sogar ein- oder zweimal auf einer Party in dem Haus, aber meine Erinnerungen an diese Zeit sind ein bisschen verschwommen; die Partys mit Airplane und The Dead waren allerdings eindeutig besser. Ich glaube auch nicht, dass ich D.s Seminare auf der Cole Street besuchte, obgleich ich wohl wusste, dass er sie gab, es sprach sich herum, vielleicht hingen auch Plakate aus. Es war das gleiche Gerede, das wir auch auf der Ranch zu hören bekamen.“

Die Protagonistin beschäftigt sich in ihrer Freizeit mit der Jagd, mit weiten Wanderungen in der Wüste und mit der eigenen Einsamkeit. Es wird vor allem die Ziellosigkeit und der Mangel an Sinn im Handeln der Erzählerin deutlich. Dabei bleiben die Gründe im Verborgenen, obwohl man indirekt die Leere, Abgestumpftheit und mangelnde Empathie auf die Sozialisation in der Hippiekommune von Charles Manson zurückführen könnte. Exzessiver Drogenkonsum, Prostitution, Erniedrigung, Hingabe und sexuelle Abhängigkeit bestimmten das Zusammenleben der Kommune. Es gelingt dem Autor, die Besonderheiten und Deformationen in der Entwicklung der beteiligten Personen zu thematisieren. Dass er dabei weitgehend von Bewertungen absieht, distanziert und entspannt die Personen mit seiner Erzählung begeleitet, trägt nicht zuletzt zu dem verstörenden Eindruck des Buches bei. Die Lektüre ist nicht immer ein Vergnügen, aber im Angesicht von Amokläufen, individuellem Waffenbesitz und steigendem gesellschaftlichen Druck liefert Bell ein Szenario, welches Auswirkungen und Konsequenzen bestimmte Formen der Sozialisation haben.

Titelbild

Madison Smartt Bell: Die Farbe der Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2013.
224 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783954380053

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