Jenseits jeder Grenze

Der erschütternde Roman „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ von Adam Johnson

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Adam Johnson schreibt die erschütternde Lebensgeschichte eines nordkoreanischen Kindes Jun Do. Sicherlich ist dies kein zufällig gewählter Name. Der Roman begleitet den Protagonist durch seine Kindheit, seine Jugend und seine Zeit als junger Heranwachsender. Dabei wird das Hauptaugenmerk auf die Auswirkungen des nordkoreanischen Erziehungssystems gelegt, auf die Repressalien des politischen Regimes und auf die Deformationen der Menschen, die in diesem diktatorisch-kommunistischen System leben. Es ist dem Leser zunächst nicht ersichtlich, ob es sich um eine fiktive Lebensgeschichte oder um eine reale Biografie handelt. Im Laufe der Lektüre werden die Details der Erzählung aber nahezu hyperrealistisch, so dass kaum noch Zweifel an dem realen Hintergrund des Romans bestehen. Auf der anderen Seite wird aber gerade durch eine knappe, präzise, nahezu spartanische und hyperrealistische Erzählweise eine vermeintlich biographische Erzählung in Literatur transzendiert, sodass es letztendlich nicht mehr relevant zu sein scheint, ob es eine reale Vorlage gibt. Literatur wird realer als die Wirklichkeit zu sein scheint.

Die Details des Lebensweges von Jun Do sind eine Aneinanderreihung von „negativen“ Entwicklungsstufen in Hinblick auf Individualisierung und persönliches Wohlbefinden. Er wächst in einem Waisenhaus auf, obwohl er nicht Waisenkind ist – wobei der Status der Waisenkinder die unterste soziale Stufe in der Hierarchie der autoritären Gesellschaft ist –, da sein Vater im Waisenhaus arbeitet. Hier ist körperliche Züchtigung und Kinderarbeit der alltägliche Normalzustand und der Tod der Waisenkinder wird bei gefährlichen Arbeiten billigend in Kauf genommen. Nach dem Waisenhaus wird Jon Do in einer Spezialeinheit für den Tunnelkampf ausgebildet. Er lernt das Kämpfen in absoluter Dunkelheit, eine Fähigkeit, die ihm in seinem späteren Berufweg bei der Entführung von Menschen für das nordkoreanische System zu gute kommt. Immer wieder schildert Johnson traumatische Erlebnisse, die schon jedes für sich für die Entwicklung einer Persönlichkeit problematisch sind. „Es sollten noch viele Entführungen folgen – jahrelang ging es so weiter.“ Koreanische Sondereinsatzkommandos entführen Personen, um sie für bestimmte Aufgaben in Nordkorea einzusetzen. Das Spektrum reicht von der Ehefrau bis zur Opernsängerin. Jun Do ist bei einem dieser Einsatzkommandos dabei, muss die Personen direkt entführen, niederschlagen, fesseln, abtransportieren oder sogar töten.

Er arbeitet später auf einem nordkoreanischen Fischkutter als Abhörspezialist, um den Funkverkehr der Amerikaner auf dem Meer auszuspionieren. Er beobachtet dabei zwei Sportlerinnen, die sich auf einer Paddeltour um die Welt befinden. Eine der beiden wird entführt und dient letztendlich zur persönlichen Belustigung des Staatschefs.

Johnsons Roman reiht eine Vielzahl von verstörenden Situationen aneinander. Etwa, als er seinen Protagonisten verschwinden lässt, der später unter einer anderen Identität auftaucht: „»Ich war ein vorbildlicher Bürger«, verkündete er. »Ich war ein Held der Nation« fügte er hinzu, und dann trat er in seinen neuen Stiefeln durch die Tür, hinaus in einen bedeutungslosen Ort, und an dieser Stelle verliert sich der weitere Weg des Bürgers Pak Jun Do.“ Er verschwindet zunächst in einem Lager. Offensichtlich ein alltäglicher Vorgang in Nordkorea. Dies gehört ebenso wie die Spezialeinsatzkräfte zum Alltag: „Dann setzten wir alle Stirnlampen und OP-Masken auf und knöpften uns gegenseitig die Kittel hinten zu, bevor wir die Leitern herunterstiegen, die ins Herz des Folterkellers führen.“ Und das staatlich geregelte Privatleben der Bürger erscheint sehr ungewohnt: „Als das Schiff des Kapitäns eines Tages nicht in den Hafen zurückkehrte, hatte seine Frau einen Ersatzmann bekommen, und jetzt war der Kapitän allein. Außerdem waren die Jahre, die er im Gefängnis gesessen hatte, auf seine Lebensarbeitszeit draufgeschlagen worden; für ihn würde es keinen Ruhestand geben.“

Mit Johnson taucht man in einen befremdlichen Kosmos ein, der von Kontrolle, Folter und von Angst bestimmt wird. Individualität findet nicht statt, dafür aber staatlich angeordnete Existenz. Es wird ein brutales Leben beschrieben, in dem das Individuum, Jon Do, mit der gesamten Staatsmacht konfrontiert wird. Er werden die Vergewaltigungen des Einzelnen durch den Staat thematisiert und wie man diese aushält – oder eben auch nicht. Und unter allem Zwang erhält sich der geschlagene und getretene Jon Do die Hoffnung auf Freiheit, die Hoffnung auf ein anderes, auf ein richtiges Leben. Am Ende ist es wieder der Gewalt ausgeliefert, aber er hat seiner Frau, seinen Kindern, die Möglichkeit von Freiheit gezeigt, sie außer Landes geschmuggelt. Er formuliert es in einem Satz, im Angesicht der Bedrohung durch die Repressionen des Staatoberhauptes: „Freiheit konnte man wirklich fühlen“. In Anbetracht der aktuellen politischen Situation und der Rolle Nordkoreas ist dies ein Roman, der manches Handeln im Kontext eines totalitären Regimes verständlicher macht. Unbedingte Leseempfehlung – spannend und auf eine verdrehte Art unterhaltsam. Was kann man mehr erwarten, als dass Literatur realer als die Wirklichkeit wird?

Titelbild

Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
682 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518464250

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