Ein Rettungsgürtel am Landwehrkanal

In dem Buch „Aus dem Café Größenwahn“ berichtet Egon Erwin Kisch aus Berlin

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit es die Berliner Republik gibt, hat auch das Berlin der 1920er-Jahre wieder Konjunktur. Und mal ehrlich: Wenn man sich schon eine Genealogie als Hauptstadt konstruieren muss, möchte man sich wirklich auf die Jahre davor und danach berufen? Jason Lutes zeichnet das Berlin jener Jahre in einer exzellenten Comictrilogie, Tobias O. Meißner und Reinhard Kleist verfremden sie zu Berlinoir, und auch originale Autoren wie Irmgard Keun, Mascha Kaléko, Erich Kästner oder zuletzt die Spaziergänge Franz Hessels stoßen auf neues Interesse, sowohl in der Kritik als auch bei den Lesern.

Will man das literarische Leben in diesen Jahren beschreiben, stößt man auf etwas, das es wohl im Wien der Jahrhundertwende, in Deutschland aber noch nicht gegeben hatte – nämlich die außerordentliche Nähe von Literatur und Tagesjournalismus. Beides ist nicht klar zu trennen: Einerseits versucht der literarische Text, wenn er für die Zeitung entsteht, hochaktuell zu sein. Auf der anderen Seite geht es darum, auch wenn man „nur“ für die Tagespresse schreibt, Artikel von einer Qualität zu liefern, die den Augenblick überdauern kann. Kästner und Kurt Tucholsky mögen bis heute die prominentesten Vertreter dieser Verbindung sein. Gleich neben und nach ihnen kommt aber Egon Erwin Kisch, 1885 in Prag geboren, und wie Franz Kafka aus einer jüdischen, deutschsprachigen Familie. Seine Karriere hatte er noch in der Donaumonarchie begonnen und dabei die Affäre um den Obersten Albert Redl an die Öffentlichkeit gebracht – sehr zum Ärger der Militärs, die Redls Tätigkeit als russischer Spion und seinen anschließenden Selbstmord möglichst geheim halten wollten.

Schon seit den 1910er-Jahren berichtete Kisch immer wieder einmal aus Berlin und siedelte 1922 ganz dorthin um. Bis zu seinem Gang ins Exil schrieb er hauptsächlich für eine Tageszeitung aus Brno, aber auch in Deutschland wurde er zum Star unter den Journalisten. Vor allem seine Reportagebände wurden gelesen – nach einem von ihnen, „Der rasende Reporter“ (1925) bekam er den Beinamen, der ihm bis heute anhaftet.

„Aus dem Café Größenwahn“ versammelt zwei Dutzend seiner Berliner Reportagen, entstanden zwischen 1914 und seinem Gang ins Exil 1933. Die Texte selbst sind bekannt und aus der Werkausgabe im Aufbau Verlag zusammengestellt. Man muss Klaus Wagenbach dennoch dankbar sein, denn eine aktuelle, handliche Ausgabe von Kischs Reportagen musste man bisher mit der Lupe suchen. Und was für eine Auswahl das ist: Albert Einstein wird beim Einstellen seiner Vorlesung beobachtet, es werden Kontaktanzeigen vom Ende der Kaiserzeit seziert, und Experimente mit Trinkgeldhöhen durchgeführt. Kisch besucht illegale Wohnungspartys und das böhmische Viertel in Neukölln, stochert mit der Berliner Polizei nach Wasserleichen und schreibt einen Abgesang auf das Café des Westens, in dem sich vor dem Ersten Weltkrieg die alte Berliner Bohème traf.

Wer immer die Texte zusammengestellt hat, sie oder er hat es mit Geschmack und Treffsicherheit getan. Nicht nur entwerfen die kurzen Skizzen ein komplexes Bild der aufregenden Großstadt, auch die Zeitspanne – vom Ende des Wilhelminismus bis zum Beginn des Nationalsozialismus – spricht Bände, weil die Geschichte inklusive Krieg, Inflation, Weltwirtschaftskrise, Aufstieg des Abschaums, immer wieder in diesen Bildern mitschwingt. Dass der Titel des Buches unter der Hand den Namen „Café Größenwahn“ – ein alter Beiname für das Café des Westens – zum Synonym für die Stadt selbst macht, ist wohl Absicht. Kisch legt großen Wert auf die Authentizität des Berichteten, aber er inszeniert sich dabei auch selbst als genauer Beobachter. Wenn Hermann Hesse in seinem „Glasperlenspiel“ über das „feuilletonistische Zeitalter“ des 20. Jahrhunderts jammert, kann man angesichts von Kischs Reportagen jedenfalls nur den Kopf schütteln.

Aber so sehr Kisch darauf besteht, dass seine Reportagen wahr sind, so wenig ist er selbst neutraler Beobachter. Im Gegenteil sind seine Texte – wie die Tucholskys oder Carl von Ossietzkys (oder Wiglaf Drostes, um ein heutiges Beispiel zu nennen) – engagiert und ergreifen sehr wohl Partei. Mit wie viel Wut im Bauch Kisch schreiben kann, demonstriert er im virtuosesten Text der Sammlung, „Rettungsgürtel an einer kleinen Brücke“. Scheinbar harmlos beginnt er mit der Beschreibung einer Vorrichtung, die für die Rettung Ertrinkender in einem abgelegenen Teil des Landwehrkanals gedacht ist und sinniert über deren Nutzen. Für wen ist der Gürtel eigentlich? Den wirklich Ertrinkenden fehlt es an Kraft, Selbstmörder lassen sich nicht helfen. Aber von hier steigert sich der Text auf wenigen Seiten in eine wütende Anklage gegen die rechten Freikorps-Mörder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die die beiden Leichen bekanntermaßen in den Kanal warfen, und zwar genau an dieser Stelle. Niemand von den Mördern wurde je ernsthaft bestraft, und wahrscheinlich waren ihre Taten von der Reichskanzlei gedeckt. „Das alles fällt einem so ein, wenn man auf dem idyllischen Brücklein steht, an dem fürsorglich ein Rettungsgürtel hängt.“

Auch nach 80 Jahren läuft es einem bei der Lektüre des letzten Textes kalt den Rücken herunter. „In den Kasematten von Spandau“, das hier gekürzt erscheint, ist Kischs Bericht von seiner Verhaftung am Morgen nach dem Reichstagsbrand, den die Nationalsozialisten als Vorwand nutzten, um ihre Diktatur zu festigen. Selbst hier, so beschreibt es zumindest sein Bericht, bewahrt Kisch einen klaren Kopf und versucht möglichst präzise zu beschreiben, was um ihn herum vorgeht; damit liefert er eine der frühesten Innenansichten des neuen Regimes. Wer will, kann bereits 1933 wissen, woher der Wind in Deutschland weht. Einige Tage später wird Kisch auf Intervention der Tschechoslowakei freigelassen und aus Deutschland ausgewiesen. Hier beginnt seine Odyssee ins Exil, die ihn über Australien und den Spanischen Bürgerkrieg in die USA und schließlich nach Mexiko führt. Nach 1945 kehrt Kisch nach Prag zurück und unterstützt – er ist überzeugter Kommunist – den Aufstieg der KP zur allein bestimmenden Macht im Land. 1948 stirbt er in einem Prager Krankenhaus. Wie immer man seine politische Haltung aus der historischen Distanz bewertet: als Zeitzeuge und als Autor dieser brillanten Miniaturen gehört Kisch zu den großen Autoren der Weimarer Republik.

Titelbild

Egon Erwin Kisch: Aus dem Café Größenwahn. Berliner Reportagen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
140 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783803112941

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