Über das Glück im Unglück

Anja Röhls Erinnerungen an Ulrike Meinhof

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Haut heißt Haut, weil man darauf haut.“ Dies ist als Motto dem Buch von Anja Röhl vorangestellt. Unterschrieben ist dieses Zitat mit „Der Vater zum Kind, 1960“. Anja Röhls Vater ist der linke Verleger Klaus Rainer Röhl, Herausgeber der Zeitschrift „Konkret“. Er tritt ebenso wie die Stiefschwestern in den Erinnerungen von Anja Röhl in den Hintergrund. Dies scheint einerseits dem Thema des Buches geschuldet zu sein – sind es doch Erinnerungen an Ulrike Meinhof –, andererseits aber auch mit der familieninternen Diskussion der Familien Röhl zusammenzuhängen.

Im Vorfeld der Veröffentlichung des vorliegenden Buches hat es Auseinandersetzungen gegeben, bei denen die Stiefschwester der Autorin auf der „Nicht-Erwähnung“ ihrer Personen bestanden, obwohl sie vorab in den Erscheinungsprozess eingebunden waren. In einem Vorwort des Verlages wird dieser unsägliche Vorgang beschrieben. Tatsache ist, das es offensichtlich keine Versöhnung, kein Verzeihen und keine Rücksichtnahme gibt, vor allem nicht in Hinblick auf die vorliegende Veröffentlichung von Anja Röhl. Dabei hätte es ihren „Widersachern“ gut zu Gesichte gestanden, eine positive Beteiligung an solch einem sprachlich präzisen, inhaltlich sensiblen und literarisch wertvollen Buch aufweisen zu können. Schade, dass sie diese Chance verpasst haben. Dem Buch wird es auf jeden Fall nicht schaden. Als zusätzlich skurrile Nebenerscheinung seien noch die Schwärzungen im Text erwähnt, die auf von den Stiefschwestern gestrichene Passagen verweisen. Gegrüßt seiest du, Heinrich Heine! Keine Schlechte Gesellschaft, in der sich Frau Röhl da befindet.

In den Erinnerungen schafft Anja Röhl eine Distanz, wenn sie von sich selbst als „dem Kind“ schreibt. Dies ist allerdings auch gut, denn so sind die Inhalte von der Autorin sicherlich leichter zu ertragen und für den Leser klarer zu erkennen. Nimmt man diese Aufzeichnungen aus dem Blickwinkel eines Kindes, erscheinen die Sechzigerjahre wenig aufgeklärt, kaum emanzipatorisch und vor allem fehlt durchgängig die Empathie dem Kind gegenüber. Dies ändert sich auch nicht, als das Kind zum Mädchen wird. Hier stellt sich eher ein unbestimmtes und nicht weiter zu verifizierendes Gefühl von Übersexualisierung ein, wenn das Verhältnis zum Vater beschrieben wird. Wie immer es sich auch verhält – aus der Perspektive des Kindes hat nur Ulrike Meinhof gedacht, allen anderen war diese Perspektive nicht wichtig. Kind und Mädchen treffen daher ziemlich früh eine Entscheidung: „Das Kind will schnell erwachsen sein, es ist nicht gern Kind. Kind sein heißt allein sein, schuld sein, essen müssen, schlafen müssen, brav sein müssen. Kind sein heißt, sich nicht wehren können. Ganz schnell will es groß sein, nur endlich groß sein.“

Den Eltern gegenüber herrscht ein Verhältnis menschlicher Kälte: „Das Kind möchte so gern, dass die Eltern sich wieder vertragen. Aber wenn der Vater es nach Hause bringt, will es allein hochgehen, will nicht, dass er mitkommt. Oft macht er es doch, und immer gibt es dann Streit, und dann hört das Kind seine Stimme wieder so schrecklich laut und unheimlich durch die Wand.“ Dabei spielt natürlich auch die Trennung der Eltern eine Rolle, aber Fürsorge und Verständnis scheint das Kind nicht zu finden. Dies ändert sich erst mit der neuen Frau des Vaters. Der Vater stellt „dem Kind“ Anja seine neue Freundin und spätere Frau Ulrike Meinhof vor. Und die Protagonistin erlebt zum ersten Mal, das sich eine Erwachsne für es einsetzt, seine Position versteht und es sogar verteidigt. Anja ist überrascht und verblüfft. Man merkt sogar den Aufzeichnungen nach so langer Zeit – wir sind im Jahr 1960/61 – an, das die Autorin immer noch überrascht ist, in einer kinderfeindlichen Welt von einer Frau wie Ulrike in Schutz genommen zu werden. „So was hat es noch erlebt, dass eine so spricht. Ulrike, denkt das Kind, was die für Sachen sagt!“

Auch die familiäre Ausgrenzung der Erzählerin – die sich offensichtlich bis in Jahr 2013 fortgesetzt hat – wurde zeitweise von Ulrike Meinhof aufgehoben. Eine typische Situation beschreibt die Verfasserin als alltägliche Szene: Anja hat immer Angst, etwas falsch zu machen, möchte bei ihren beiden Stiefschwestern sein – Ulrike Meinhof hatte mit ihrem Mann zwei Kinder –, befürchtet aber, diese „Gunst“ zu verlieren, wenn es etwas falsch macht. Ulrike hebt die Zweifel auf, versucht der Angst etwas entgegen zu setzen: „Am Abend sagt Ulrike: »Weißt du was? Du gehörst dazu, denn du bist die Schwester meiner Kinder.« Das ist ein wunderschöner Satz.“ (51) Dabei ist man immer wieder überrascht über die Poesie in den Formulierungen: „Alles, was Ulrike erzählt, sieht das Kind in bunten Bildern vor sich. Es ist schön, wenn Ulrike erzählt.“ (59)

Problematische Themen scheint es viele zu geben. Übergriffig erscheint der Vater, oder zumindest hat er die Verantwortung für ein Kind nicht im Blick. Das sind auch für den Leser unangenehme Passagen. Wie muss es erst für das Kind gewesen sein? „Einzig im Arbeitszimmer des Vaters stehen noch alle Möbel, dort liegen all die Mädchenbilder für seine Zeitung herum, die sie immer schon ansehen musste. Nun [nach der Trennung der Eltern, A. d. V.] hasst sie das alles noch viel mehr. Ihr Vater ist dran schuld, er hat ihr das liebste genommen, was sie hatte: ihre Schwestern, für eine kurze Zeit die Illusion einer Familie.“

Es ist Anja Röhl vorgeworfen worden, vor allem natürlich nach Ulrike Meinhofs Verhaftung, und es wird ihr bis heute manchmal noch vorgeworfen, sich nicht von Ulrike Meinhof distanziert zu haben. Aber wie sollte man das an ihrer Stelle tun? In der Zeit der Haft schreibt sie Briefe und besucht die Inhaftierte. „Manchmal vergisst sie die Zensur. Doch sie weiß, dass nicht nur mitgelesen, sondern auch mitgeschrieben und in geheimen Akten notiert wird und dass sie vielleicht nie mehr eine Lehrerstelle oder sonst einen Beruf in Deutschland bekommen wird. Sie hält es für möglich, dass man heimlich in ihre Wohnung geht und dort Schubladen durchsucht, sie muss damit rechnen, dass man sie eines Tages festnimmt, nur wegen dieser Besuche, wegen dieser Briefe, nur weil sie sich nicht gegen Ulrike stellt.“

So kann dieses Buch Verständnis wecken für eine Perspektive auf Menschen, die wir nicht akzeptieren können, die vermeintlich als Verbrecher in unserem kollektiven Gedächtnis leben. Es zeigt Aspekte und die Empathie einer Ulrike Meinhof, die so nicht in das Bild der Frau von den Fahndungsphotos passen will. Nur die Unversöhnlichkeit der Familie scheint in das Bild zu passen. Aber zumindest eines gelingt Anja Röhl mit diesem Buch: Es lässt den Leser mit einer Frage zurück, lässt ihn seine Einschätzung einer von ihm schon „eingeordneten“ Person der jüngeren Geschichte überdenken. Und es vermittelt ein erschreckendes Bild menschlicher Kälte in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der Sechziger- und Siebzigerjahre. Dass Anja Röhl Ulrike Meinhof auch nach ihrer Verhaftung im Gefängnis besuchte, ehrt sie als Person und gebietet erheblichen Respekt, vor allem, wenn man die hysterische bundesrepublikanische Wirklichkeit der Siebzigerjahre und die Terrorismus-Hysterie bedenkt. Für den Leser macht es die nicht leichter, aber es schenkt ihm ein vor allem auch literarisch wertvolles Buch, das so eindringlich vom Glück und Unglück der Menschen spricht, wie selten ein Buch.

Titelbild

Anja Röhl: Die Frau meines Vaters. Erinnerungen an Ulrike.
Edition Nautilus, Hamburg 2013.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783894017712

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