Göre mit Berliner Schnauze

Über eine Wiederauflage der Erinnerungen der Diseuse Claire Waldoff

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der merkwürdige Erfolg der richtigen Berliner“, bemerkte Peter Sachse zu Beginn der 1950er-Jahre verwundert, sei, „daß sie von woanders sind.“ Er dachte dabei nicht etwa an Fußballer, die bekanntlich aus aller Welt in alle Welt ziehen, um der jeweiligen Stadt den Glanz eines Europacup-Sieges oder ähnliches zu schenken. Nun ja, schenken ist eigentlich nicht so recht der rechte Begriff. Davon abgesehen wäre Sachse wohl nie auf die Idee gekommen, von vorübergehend zugezogenen Sportgrößen als richtigen Berlinern zu sprechen. Er dachte vielmehr an jene, die kamen, um zu bleiben. Und vor allem dachte er nicht an Sportler oder Sportlerinnen sondern an Angehörige der Kunstszene und der Bohème, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur an der Isar leuchtete, sondern eben auch in der Spreemetropole. Heinrich Zille war so einer. Und Claire Waldoff. War der eine in Radeburg geboren, so die andere in Gelsenkirchen.

Das eingangs zitierte Bonmot ist einem Grußwort Sachses in den 1953 erstmals erschienenen und nun vom L.S.D. Verlag neu aufgelegten Erinnerungen Waldoffs entnommen. Anders als in Memoiren gemeinhin üblich, verschweigt die Autobiografin ihr Geburtsjahr. Es war 1884. Dafür aber erfährt man, dass sie das elfte von sechzehn Kindern war und sich ihre Eltern nach dem letzten und 45-jähriger Ehe scheiden ließen. Als Kind wurde sie zu Pflegeeltern gegeben, bei denen es sich „ausgerechnet“ um die Eltern Theo Lingens handelte, „der damals gerade im Begriff war, das Licht der Welt zu erblicken“. Jahrzehnte später sollten die damals noch kleine Claire und der noch kleinere Theo von der Bühne aus gemeinsam das Rampenlicht des Theaters erblicken.

Schon früh fühlte sie sich zur Aktrice berufen. Die Bretter der großen Bühnen blieben ihr aber fürs erste versagt. So „klapperte“ sie als junge Schauspielerin mit ihrem Ensemble „kleinste Nester“ ab. Was sie natürlich nicht eben reich machte. Im Gegenteil. Oft genug verschwand das wandernde Völkchen nach der Aufführung möglichst schell und vor allem heimlich durch die Hintertür, weil sie nicht einmal die Saalmiete zahlen konnten. Es sei eine „schöne beschwingte Zeit“ voller „Lieb und Lust“ gewesen, erinnert sich Waldoff. Dennoch fühlte sie sich ganz plötzlich nach Berlin gezogen, packte von einem auf den anderen Tag ihre Koffer und ließ die überraschten KollegInnen in der Provinz zurück.

In der Berlin kam sie sogleich in Tuchfühlung mit der Bohème, „lebte mit Malern und Dichtern, teilte mit ihnen ihre Armut und auch ihre plötzlichen Festivitäten und Atelierfeste“, bis sie endlich selbst eine „glückliche Zimmer- und Wohnungsbesitzerin“ wurde. Vom Leben der Bohème entfernte sie das allerdings keineswegs, zumal sie inzwischen vor allem als Diseuse und Operettensängerin auftrat und das Berliner Publikum sie geradezu anzuhimmeln begann. Bei den Zensurbehörden allerdings war sie nicht ganz so beliebt. Einmal musste sie etwa die Bühne eines Kabaretts verlassen, weil es verboten war, als Frau nach 23 Uhr in Männerkleidung aufzutreten. So waren die Sittlichkeitsvorstellungen des deutschen Kaiserreichs in der Vorkriegszeit.

Ihren – und das ist durchaus wörtlich zu verstehen – unvergleichlichen Erfolg als Sängerin bekannter Operettenmelodien, vor allem aber unzähliger in Berliner Mundart vorgetragener Gassenhauer konnte so etwas allerdings nicht aufhalten. „Ich fing an, die Berlinerin zu werden, ein Prototyp der Berliner, ein Repräsentant des modernen Berlins“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Und das ist sicher kein bisschen übertrieben.

Kurt Tucholsky und der seinerzeit kaum weniger bekannte Komponist Walter Kollo schrieben ihr Texte und Stücke. Einige ihrer bekanntesten Schlager wie „Wer schmeißt denn da mit Lehm“ oder „Det scheenste sind die Beenekens“ stammen allerdings aus ihrer eigenen Feder, das heißt sie hat Text und Musik geschrieben.

Kaum war der Erste Weltkrieg ausgebrochen, „stellten die Theater sich auf Krieg um“, erinnert sie sich. Das berühmte Theater am Nollendorfplatz, in dem Waldoff engagiert war, spielte als erstes „Kriegsstück“ eine inzwischen ziemlich vergessene Operette von Walter Kollo und Willy Wolf. Sie handelte auf einem Schlachtfeld in Frankreich und trug den angriffslustigen Titel „Immer feste druff“.

Nach Kriegsende sah sich Claire Waldoff dann tatsächlich ein wenig in Frankreich um, schlug allerdings keineswegs „feste druff“, sondern verbrachte mit ihrer Lebensgefährtin Olly von Roeder ein paar „unvergessliche Tage“ im „märchenhaften“ Paris. Wieder zurück in Deutschland hielt ihre Karriere ungebrochen an. Jedenfalls bis zum Ende der Weimarer Republik. Während des Nationalsozialismus wurde sie jedoch „auf den Index gesetzt“, obwohl „mein arischer Nachweis bis zum Urgroßvater in Ordnung befunden wurde“, wie sie betont. Doch sei sie eben bei den neuen Herrschern „unbeliebt“ gewesen. Tatsächlich war es ihr allerdings nicht untersagt, vor Publikum aufzutreten, wohl aber in Filmen oder im Rundfunk.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat sie nur noch wenig und meist auf kleineren Bühnen der näheren Umgebung von Bayrisch-Gmains auf, wo sie unweit Bad Reichenhalls ihren letzten Zufluchtsort gefunden hatte. Ihre bekanntesten Lieder, zu denen etwa „Herrman heest er“, „Ausgerechnet Bananen“, „Ach Gott, was sind die Männer dumm“, „Wegen Emil seine unanständge Lust“ oder „Warum soll er nicht“ zählen, würden „wohl noch ewig gesungen werden, wenn ich schon längst verschwunden bin“, vermutete Waldoff zuversichtlich. Nun ganz so ist es nicht. Bereits heute, zwei Generationen nach ihrem Tod 1957 kennen Clare Waldoff sogar von den Älteren nur noch wenige. Noch weniger können ihre Lieder singen und unter den Jüngeren wohl kaum jemand.

Der Verlag hat die Neuausgabe des Buches ganz ohne Kommentar, Fußnoten oder sonstige Erläuterungen gerade so auf den Markt gebracht, wie sie schon 1953 erschien. Heute aber dürfte so manche damals offensichtliche Anspielung vielen nicht mehr ersichtlich sein. Wer mag etwa noch an den Beginn des Ersten Weltkriegs oder Karl Kraus denken, wenn Waldoff eine ihrer typischen Anekdoten über Inflation der 1920er-Jahre mit der Wendung „In dieser großen Pleitezeit“ einleitet. Angehängt aber sind den Erinnerungen wie bereits in der Originalausgabe einige Artikel „Aus meiner Zeitungsmappe“. Der Zusammenstellung merkt man Walldorfs Freude über das vielstimmige Lob an.

Mag Claire Waldoff auch so manche Dichtung unter die Wahrheit gemischt, nahezu jede Zeile ins Anekdotische stilisiert und ganz sicher nicht alles erzählt haben – ihre Lesbische Liebe zu ihrer Lebensgefährtin Olly von Roeder etwa lässt sie etwa nur dezent anklingen, was den Zeitumständen der Erstveröffentlichung anzulasten sein mag –, so kann man ihrer Wesensart lesend doch kaum näher kommen als mit der Lektüre ihrer Erinnerungen.

Titelbild

Claire Waldoff: Weeste noch ...! Aus meinen Erinnerungen.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
186 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306131

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch