Falsche Heilige

Zu Hubert Wolfs Buch „Die Nonnen von Sant’ Ambrogio. Eine wahre Geschichte“

Von Jasmin M. HlatkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jasmin M. Hlatky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schilderung der skandalösen Vorfälle in Rom setzt recht dramatisch mit der Flucht Katharinas von Hohenzollern aus Sant’ Ambrogio im Juli 1859 ein. In letzter Minute entkommt die deutsche Adlige einem wahren Sündenpfuhl von Kloster, in dem eine vermeintlich Heilige perverse Macht über ihre Mitschwestern ausübt und der Prinzessin, die sich dem nicht unterordnen möchte, nach dem Leben trachtet. Der neue Beichtvater Katharinas strengt nach ihrer Rettung und auf ihre Erzählungen hin einen Inquisitionsprozess an, der schier Unglaubliches zu Tage fördert und dessen Akten hier zum ersten Mal zusammengetragen werden. Die (nicht vom Vatikan autorisierte) Verehrung von charismatischen Schwestern als mystisch Entrückte hatte im Kloster der Nonnen vom regulierten Dritten Orden des heiligen Franziskus offensichtlich Tradition, denn bereits die Ordensgründerin wurde wegen „angemaßter Heiligkeit“ verurteilt und dennoch weiter verehrt. Zu Zeiten der Vorkommnisse nun inszeniert sich die Nonne Maria Luisa als Heilige und bedient sich restlos aller denkbaren Mittel zu ihrem Machterhalt, wie sich nach und nach herausstellt.

Der Erzähler schildert uns also die Vorgänge (fast) vom Ende her – er stellt erst die wichtigste Zeugin vor und trägt dann akribisch Akte für Akte über die lang geheim gebliebenen Geschehnisse zusammen. Das Material bietet genug – Visionen, Marienbriefe, sexualisierte Beichtrituale, Intrigen und Mordversuche –, um als Vorlage für mehr als einen Roman dienen zu können.

Hubert Wolf jedoch offenbart hier sowohl seine seriöse Arbeitsweise als Historiker als auch seine Begabung als großartiger Erzähler – der Leser erhält von ihm zunächst tiefe Einblicke in das Verfahren der Inquisition im 19. Jahrhundert sowie detaillierte Erläuterungen zur juristischen Praxis im Vatikan jener Zeit. An Stellen, an denen die fingierten Visionen und Stigmata beschrieben werden, die Maria Luisa zu haben behauptet, erfolgt ein Exkurs über die Mystik; wo die hochgradig involvierten Beichtväter zur Sprache kommen, finden sich Erläuterungen zu den Jesuiten. Die feinen Unterscheidungen, Quellenwiedergaben und exakten Definitionen sind hierbei eine reine Freude zu lesen, denn auch hier herrscht wissenschaftliche Ernsthaftigkeit vor, ohne jedoch Langeweile zu verbreiten. Der Autor suhlt sich zu keinem Zeitpunkt in den schlüpfrigen Details der monastischen Verfehlungen, sondern er folgt in seiner Schilderung genauestens dem Untersuchungsrichter bei seinen Ermittlungen. Er gibt Verhörprotokolle wieder, trägt die einzelnen Ereignisse zusammen und kommentiert nur in seltenen Fällen. Gerade durch diese Zurückhaltung und indem er der Versuchung widersteht, reißerisch oder plakativ zu werden, wird das gesamte Ausmaß des bizarren Heiligenkultus, der in besagtem Kloster über Jahrzehnte vollzogen wurde, offenbar.

Es wird dem Leser auf diese Weise schnell klar, dass in Maria Luisa lediglich ein Opfer zur Täterin wurde, die nur nachlebte und allenfalls perfektionierte, was ihr vorgegeben wurde. Wolf spricht von einem „wundersüchtigen Frömmigkeitsmilieu im Rom der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, das die Entgleisung dieser Nonnengemeinschaft vorantrieb und letztlich mit verursachte. Die Beichtväter, die eigentlich für die nötige Erdung hätten sorgen müssen, machten willig mit, und waren teilweise derartig in eigene vatikanische Intrigenspiele verstrickt, dass ihnen Kontakte zu wundertätigen Nonnen gerade recht kamen. Besonders die Rolle des Jesuiten Joseph Kleutgen wird hier näher beleuchtet, der unter falschem Namen als Beichtvater der Pseudo-Heiligen tätig war und sich im „System Sant’ Ambrogio“ zahlreicher Vergehen schuldig machte, angefangen bei der Missachtung des Beichtgeheimnisses bis hin zum Bruch gleich mehrerer seiner Gelübde. Darüber hinaus pflegte er enge Kontakte zum Vatikan, besonders zu einem Kurienkardinal, der wiederum auf der Höhe der merkwürdigen Vorgänge im Kloster hätte sein sollen und damit im Grunde mitverantwortlich war, jedoch aufgrund zahlreicher anderer nützlicher Verbindungen ausgerechnet zum Richter im Prozess gegen die Nonnen von Sant’ Ambrogio gemacht wurde. Demzufolge kamen die Beichtväter im Prozess recht milde davon, die Nonnen aber büßten hohe Strafen ab. Mit dem Urteil endet das Buch jedoch nicht – auch die anschließende Vertuschung des Falls im Laufe der nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte arbeitet Wolf in vollem Umfang auf.

Möglicherweise liegt in der akribischen Schilderung der Quellenlage auch die einzige Möglichkeit, die Ungeheuerlichkeit dieses Falles begreifbar zu machen. Zu unglaublich klingen die Geschehnisse, zu weit reichen die vatikanischen Machenschaften als dass bei einer romanhafteren Verarbeitung des Stoffes ihn noch irgendjemand für wahr hätte halten können. Es ist eine schier unfassbare, wahre Geschichte, die uns Wolf hier schildert, aber gerade die Art, wie er sie schildert, macht sein Buch so groß und eindrucksvoll.

Titelbild

Hubert Wolf: Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
544 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406645228

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