Ein Kaleidoskop des Übermorgen

Ernst A. Grandits „2112 – die Welt in 100 Jahren“ wirft einen Blick in die Zukunft

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die gute Nachricht zuerst: Die Welt ist nicht untergegangen und wird es auch in hundert Jahren nicht sein. Zumindest wenn man dem Blick aus dem Fenster und den Szenarien der Experten Glauben schenkt. Unter Federführung des Kulturjournalisten Ernst A. Grandits versammeln sich Wissenschaftler aller Fachrichtungen um „Die Welt in 100 Jahren“ zu diskutieren, in allen Facetten des Alltags, der Welt und Kultur im Jahre 2112. Wem das bekannt vorkommt, der befindet sich nicht in einer Zeitschleife, sondern in Reichweite eines gut sortierten Bücherregals: Bereits 1910 ließ Arthur Brehmer das gleiche Gedankenspiel für die „Welt in 100 Jahren“ durchführen, mit aus heutiger Sicht herrlich futuristischen bis beängstigend treffsicheren Voraussagen über unsere eigene Gegenwart.

Nach dem großen Erfolg des Nachdrucks von Brehmers Band entschloss sich der Olms Verlag zu einer Fortsetzung, die sich ebenso interessant liest wie sie nachdenklich macht. Eins ist mehr als deutlich: Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Welt von Übermorgen aussehen mag, kann philosophisch oder nüchtern, poetisch oder humoristisch sein – ohne ihre jeweiligen Sujets preiszugeben. Es ist eine große Stärke des Bandes, dessen vielstimmigen Kanon nicht geglättet zu haben. Die Ernsthaftigkeit des Unterfangens ist unüberhörbar. Umgeben von zahlreichen Science Fiction-Literaturen jeglicher Couleur überlässt das Buch es diesen, dystopische Schrecken als Mahnung ans Heute zu entwerfen. Es geht nicht um die schieren Fiktionen, weshalb auch alle Essays in unserer heutigen Welt verankert sind. Darin liegt gleichzeitig aber auch die Hürde bei dem Unterfangen, und mancher Beiträger nimmt sie eleganter als andere: sich aus den heutigen Problemen und Gegebenheiten herauszudenken und sie wahrhaftig weiterzuentwickeln. Und die Zukunft nicht nur als den Punkt zu verstehen, in dem gegenwärtige Probleme sich widerspiegeln. Wie schwierig dieser eine Schritt ins Nichts hinaus ist, zeigt sich gerade an den Entwicklungen, die so rasant vonstatten gehen, dass alles Zukünftige bereits gegenwärtig erscheint.

Die „Genfibel“ oder der „Staatskapitalismus“ erscheinen durchaus naheliegend und plausibel – man würde gerne einen Blick ins Jahr 2112 werfen, um zu sehen, was sich von den Prognosen realisiert hat. Um dann wie bei Brehmers Buch ebenfalls rückblickend schmunzeln zu können und zu staunen, über die Präzision oder den Futurismus der Prognosen. Aber wie auch die Leserschaft 1910 nicht wissen konnte, wie selbstverständlich uns heute „das drahtlose Jahrhundert“ sein wird, können wir es ebenso wenig wissen. Interessanterweise scheinen sich die Beiträger fast einig zu sein, dass die Zukunft von einer asiatischen Großmacht dominiert wird und in so gut wie allen Lebensbereichen massive körperliche Eingriffe auf den Menschen einwirken werden.

Die Zeiten lassen sich nicht wiederholen – das gilt auch für die medialen Gegebenheiten. Während Brehmers Werk 1910 noch in einer Zeit der relativen, literarischen Informationsdominanz erschien, ist in unser Zeit von Wikipedia, Online-Journalismus und ständigem Informationsrauschen die Frage, für wen ein solcher Essay-Band noch gemeint sein könnte. Es wäre ihm zu wünschen, Stein des Anstoßes für viele zu sein.

„Wahrlich, der Fortschritt der Geschichte geht nicht auf leisen Sohlen“, schreibt Denis Scheck in seinem Beitrag zur Literaturwelt 2112. Das stimmt in der rückblickenden Betrachtung durchaus. Als das Buch von Brehmer erschien, waren es nur noch wenige Jahre bis zum Ersten Weltkrieg. Unsere Fähigkeit zum Rückblick ist es, was das Buch aus dem Jahre 1910 so lebendig macht. Unser Unvermögen zur Vorausschau ist es, was das neue Gedankenspiel „Was Wäre Wenn? interessant macht. Wie lebendig es geraten ist, darüber mögen die Rezensenten im Jahre 2112 entscheiden – wenn zum 100. Jubiläum eine Neuauflage erscheint.

Titelbild

Ernst A. Grandits: 2112 - Die Welt in 100 Jahren.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2012.
302 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783487085197

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