Homerische Götter und Helden

John Flaxmans „Ilias“- und „Odyssee“-Illustrationen

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

John Flaxmans berühmte Illustrationen von 1793 zu Homers „Ilias“ und „Odyssee“ liegen jetzt zum ersten Mal seit über hundert Jahren vollständig – das ist wohl das Bemerkenswerte – in einer bibliophilen Ausgabe vor. Seine Zeichnungen zu den Göttern und Helden in den Kämpfen um Troja und zu Odysseus’ verschlungenen Heimkehr-Abenteuern waren seinerzeit in England und in vielen Ländern Europas populär. Sie wurden begeistert aufgenommen, bewundert und prägten ein Homer-Bild, das im 19. Jahrhundert stilbildend war und, vielleicht eher unterschwellig, auch heute noch – man denke nur an Hollywood-Filme – eine Rolle spielt.

Die 62 Bilder – 34 Tafeln zur „Ilias“ und 28 zur „Odyssee“ – sind im Querformat jeweils auf der rechten Seite des Buches abgedruckt. Die linke Seite enthält die zur Zeichnung passenden Verse aus Homer in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß. Eingeleitet wird die Ausgabe mit einem Aufsatz der Kunsthistorikern Anja Grebe, in der sie ausführlich auf den Künstler John Flaxman, die Epen „Ilias“ und „Odyssee“ und Homer in der Buchkunst eingeht.

Der Engländer John Flaxman lebte von 1755 bis 1826. Als Sohn eines Londoner Gipsgießers, zu dessen Aufgaben es auch gehörte, griechische und römische Figuren nachzubilden oder auszubessern, lernte er schon als Kind antike Skulpturen und die griechischen Mythen kennen, auf die sie sich bezogen. Als junger Mann wurde er von Josiah Wedgwood „entdeckt“ und in den berühmten Porzellanwerkstätten Staffordshires als Künstler beschäftigt. Er entwarf viele der an antiken Vorbildern ausgerichteten Porzellanmuster, die damals beliebt waren. Eines seiner immer noch bekannten Porzellanbilder ist die „Apotheose Homers“ aus dem Jahr 1778.

Die Illustrationen zu Homer wurden entscheidend durch einen mehrjährigen Aufenthalt Flaxmans in Italien beeinflusst und dort auch vorbereitet. Ein Großteil der Bilder entstand unmittelbar nach der Rückkehr nach England (1793). Die Bilder-Zyklen erschienen ursprünglich ohne Text. Sie hatten den Anspruch, aus sich heraus ein Verständnis der epischen Zusammenhänge der „Ilias“ und „Odyssee“ und eine Vorstellung von der antiken Welt Homers zu vermitteln.

Flaxmans Bilder sind Umrisszeichnungen, ganz im Stil antiker griechischer Vasenmalerei. Sie beeindrucken durch eine klare bildliche Struktur, eine überzeugende Anordnung der Figuren, die oft inmitten einer Bewegung erfasst zu sein scheinen, eine sorgfältige, auf Konturen reduzierte Darstellung der Körper und der Gewänder und eine Konzentrierung auf wenige, oft symbolträchtige Gegenstände wie Thron, Scheiterhaufen, Kampfschild, Kampfwagen oder Pferde, die mit den Figuren im Bild erscheinen und ihnen die Aura des homerisch Fernen geben.

Die bewusst einfache Darstellung berühmter Szenen aus Homers Epen, die neoklassizistisch genannt werden kann, weil sie das überbordend Barocke des 17. und 18. Jahrhunderts negiert und an den Kunststil in den Jahrhunderten davor anzuknüpfen scheint, ist ein aufschlussreiches Dokument einer bestimmten Auffassung von Homer, seinen Werken und seiner Zeit. Es ist der Versuch, das Moment des verstörend Fremden dessen, worüber Homer schreibt, zu überwinden und den Menschen Homers episches Werk über Bilder und Vorstellungen nahezubringen, die in der Renaissance in Europa das Bild der Antike prägten.

Flaxmans Illustrationen bieten viel Meisterhaftes. Szenen, die ein dramatisches Geschehen schildern, sind dabei dem Künstler besonders gut gelungen. Die Tafel 20 der „Ilias“-Zeichnungen ist dafür ein Beispiel. Sie zeigt, wie der große Held Ajax die anstürmenden Troer in Schach hält und den Helden Hektor verwundet. Das Bild ist als kleines Drama in sich aufgebaut. Ajax in prunkvoller Rüstung sticht von oben mit seiner Lanze auf Hektor ein, der sich am Boden vor Schmerzen krümmt. Dahinter kämpfen die Troer mit zum Wurf hochgestreckten Armen, brennende Fackeln in den Händen. Am Boden liegen getötete Krieger.

Die Illustration lebt von einer starken kämpferischen Bewegung, ausgedrückt vor allem durch die Haltung der Helden. Nicht die Gesichtszüge, die, wie auf den alten griechischen Vasen, eigentümlich unkonkret sind, sind das Entscheidende. Die Dramatik kommt dadurch zustande, dass Flaxmans Illustration einen Punkt des Geschehens einfängt, ein Kampfgetümmel auf einen Augenblick reduziert, es versteht, den Betrachter ahnen zu lassen, was der Szene vorausgeht und was ihr folgen mag. Dem Künstler gelingt es, eine Bewegung förmlich einzufrieren und in eine bildliche Dimension umzusetzen. Die Szene erhält von daher eine innere Dynamik und Spannung, eine wie plötzlich erstarrte Wildheit eines Kampfes.

Daneben gibt es in den Zyklen wunderbare traumhafte Darstellungen von Begebenheiten aus Homers Epen. Ein Bild zum Beispiel zeigt vier galoppierende Pferde mit einem Wagen, auf dem zwei Göttinnen stehen, die von anderen Göttinnen in einen Sternen- und Wolkenhimmel hineingeleitet werden. Das Bild lebt von der mit wenigen Strichen dargestellten kostbareren Ausstattung des Wagens und der Gewänder, von der verwegenen Fahrt des Streitwagens, den vorwärts stürmenden Pferden, der wilden Entschlossenheit der Göttinnen auf dem Wagen und der luftigen, tänzerisch-fliegenden Bewegung der Begleit-Göttinnen vor ihnen.

Natürlich enthalten Homers Epen einen Riesenvorrat möglicher Motive für einen Bilder-Zyklus der Art, wie ihn Flaxman schuf. Mit sicherem Gespür für Dramatik hat der Künstler „Ilias“- und „Odyssee“-Szenen ausgewählt und bildlich umgesetzt: Mars’ Kampf gegen Diomedes, die Bergung gefallener Krieger inmitten des Kampfgemetzels, Achills kriegerisches Wüten unter den Troern, nachdem er entschied, wieder in die Kämpfe einzugreifen, die berühmte Szene, in der Achill den getöteten Hektor um die Mauern der Stadt Troja schleift, und – nur wenige Beispiele aus der „Odyssee“ – den Kampf der beiden Bettler vor den Freiern Penelopes und Odysseus’ Gemetzel unter den Freiern.

Die Illustrationen sind weitgehend auf die Darstellung äußerer Geschehnisse konzentriert: auf Kampfszenen zum Beispiel, bei denen sich die Kontrahenten mit zum Wurf bereiten Speeren kriegerisch gegenüberstehen, auf Begegnungsszenen wie die des Waffenschmieds Hephaistos mit Achills Mutter Thetis oder, eine der berühmtesten Homer-Szenen, die Begegnung von Odysseus und Penelope am Ende der „Odyssee“. Natürlich kommen immer wieder Götterszenen vor und es fehlen auch nicht Darstellungen der märchenhaften Abenteuer des Heimkehrers Odysseus, die dieser so anschaulich den gastfreundlichen Phäaken schildert.

Weniger kann Flaxman offensichtlich mit Szenen anfangen, die nicht von einem äußeren Geschehen geprägt sind, sondern ihre Spannung aus einer inneren Dramatik beziehen. Gemeint sind Szenen wie die, in der Briseis von Achill weggeführt wird, um Agamemnon als Siegerbeute übergeben zu werden, oder Hektors anklagende Worte gegen Paris, weil der nur zögerlich in den Kampf gegen die Griechen eingreift, oder – vielleicht das am wenigsten eindrucksvolle Bild des Zyklus – Odysseus’ Zusammentreffen mit seinem Hund Argos, den er einst vor seiner Ausfahrt nach Troja in den Palast brachte, der ihn jetzt bei seiner Rückkehr nach zwanzig Jahren erkennt und danach verendet.

Es ist verwunderlich, dass Flaxman seinerzeit die Bilder ohne einen Textbezug zu Homer veröffentlicht hat. Natürlich leben viele Illustrationen aus sich heraus und haben genügend Ausdruckskraft auch ohne die entsprechenden Verse aus den Epen. Aber das gilt nicht für alle Bilder der beiden Zyklen. Anja Grebe betont in ihren einleitenden Ausführungen die große Eigenständigkeit der homerischen Bilderwelt Flaxmans. Dem kann nur bedingt zugestimmt werden. Einige Illustrationen bleiben ohne Bezug zu Homer eher leer und spannungslos. Es ist richtig, dass die vorliegende Ausgabe die Bilder zusammen mit den entsprechenden Versen Homers zeigt.

Die Bilder sind flächig, so als seien sie Wandgemälde oder Vasenmalereien. Nur die Konturen der Körper, Gewänder und Gegenstände sind durch Linien dargestellt; die Innenflächen bleiben leer. Dadurch haben die Szenen, die Flaxman aus den Epen auswählt, etwas Leichtes, Bewegliches, fast Flüchtiges, was oft einen wirkungsvollen Kontrast zum Dargestellten bildet. Durch feine horizontale Striche, die einen Teil jedes Bildes füllen, erhält die Darstellung Tiefenschärfe.

Flaxmans Bilder sind der künstlerische Versuch, Homers Welt einfach und gleichzeitig respektvoll zeichnerisch-malerisch zu gestalten. Für die Popularität des Künstlers war das vielleicht das Entscheidende. Er hat sich ganz in den Dienst des großen Epikers gestellt. In allen Bildern ist sein Bemühen deutlich, den Betrachtern eine zeitgemäße Vorstellung von Homers großen Epen zu geben. Die Bilder sind nicht unbedingt eigenwillige und neuartige Interpretationen der homerischen Texte. Sie vermitteln dem Betrachter aber – und darin liegt ihr Verdienst – so viele Eindrücke, dass sie ihm Homers Epen nahebringen und ihn auf den Text neugierig machen.

So wie Übersetzungen der Homerischen Epen aus den verschiedenen Epochen nicht nur Homer wiedergeben, sondern auch etwas über die spezifische Rezeptionsweise und Rezeptionsbedingungen seiner Werke in einer bestimmten Zeit aussagen, so sind Homer-Illustrationen Zeugen eines bestimmten Verständnisses des großen antiken Dichters. – Voß’ Übertragung der Hexameter Homers in das Deutsche – die „Odyssee“-Übersetzung erschien 1781, die „Ilias“-Übersetzung 1793 – kommt schon längst die respektvolle Bezeichnung „klassisch“ zu. Ihre rhythmisch-metrische Flüssigkeit, ihr sprachlicher Erfindungsreichtum und die Anschaulichkeit und Genauigkeit ihrer Bilder heben Voß’ Übersetzung weit über eine philologische Anstrengung und Leistung hinaus. Seine Übertragungen sind selbst Dichtung geworden. Sie erst haben das Homerbild geschaffen, das bis heute – trotz neuerer Übersetzungen und mancher Kritik an Voß’ Leistung – in der kulturellen Öffentlichkeit präsent ist.

Flaxmans Zeichnungen könnte man als neoklassizistische Illustrationen einstufen. Ihre Kargheit, ihre symmetrische Ausgewogenheit und ihre in vielen Beispielen gelungene dramatische Bildgestaltung sind, ähnlich der Voß-Übersetzung, stilbildend geworden. Von daher gibt die vorliegende Ausgabe einen interessanten Einblick in Flaxmans künstlerisches Schaffen und spannende Einblicke in ein Kapitel der Rezeptionsgeschichte Homers in England und Deutschland und darüber hinaus. Aber sie ist in erster Linie eine großartige Möglichkeit, sich Homer zu nähern. Das ansprechend gemachte Buch ist eine empfehlenswerte Hinführung zur „Ilias“ und zur „Odyssee“. Für die Homerkenner sind Flaxmans Zeichnungen eine Bereicherung ihres Bildes der „Ilias“ und „Odyssee“.

Titelbild

Homer: Ilias und Odyssee.
Mit Zeichnungen von John Flaxman und einer Kunsthistorischen Einleitung von Anja Grebe.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2013.
160 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783650251343

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