Eine verlorene Kunst

Holger Afflerbach analysiert die Geschichte der Kapitulation als Prozess humanitärer Einhegung des Krieges

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Fähigkeit, Frieden zu schließen, scheint den Völkern und ihren Politikern im Zeichen totaler Mobilmachung und ubiquitärer Ideologisierung abhanden gekommen zu sein. Der erste der beiden Weltkriege wurde 1919 mit dem Vertrag von Versailles abgeschlossen, der – diktiert ausschließlich von den Interessen der Sieger – keine von allen Beteiligten akzeptierte Ordnung der Mäßigung und des Ausgleichs schuf, sondern Quelle von Unruhe und Revanchebedürfnissen wurde. Der zweite endete mit der Kapitulation, nicht jedoch mit einem förmlichen Friedensabkommen. Unter dem Eindruck dieser beiden Jahrhundertkonflikte nannte 1952 der Kriminologe Hans von Hentig den Friedensschluss eine „verlorene Kunst“.

Vom Historiker Holger Afflerbach hören wir nun, dass auch die Niederlage, dass die Art und Weise, wie Soldaten, Truppenformationen und Nationen aufhören zu kämpfen, aus dem Krieg aussteigen wollen, zu den Künsten gehört: mit jeweils ungewissem Ausgang, aber im Laufe der Zeit wenigstens hier und da bestimmten Regeln unterworfen. Damit dies gelingen kann, bedarf es, so der Autor, der Voraussetzungen. Zum einen muss der Sieger den Besiegten „Hoffnungen auf Schonung oder zumindest ein erträgliches Weiterleben machen“, zum andern müssen die Besiegten ihre Niederlage akzeptieren und diese dem eigenen Untergang vorziehen, müssen eine Entscheidung treffen, ob es lohnt, von tradierten Normen und Erwartungen Abstand zu nehmen und sich damit eventuell dem Vorwurf der Feigheit, Ehrlosigkeit oder Befehlsverweigerung auszusetzen.

Die „Kunst der Niederlage“ besteht darin, sie unbeschadet zu überstehen. Um mehr geht es dabei eigentlich nicht. Zur „Kulturtechnik“ muss das nicht unbedingt hochgeschrieben werden. Ob und wie die Männer überleben, hängt von vielen Faktoren ab. Einige können sie beeinflussen, andere nicht. Am Ende ist alles eine Frage des Glücks. Das Beste, was die Soldaten, die einfachen zumal, erreichen könnten, meinte der von Afflerbach zitierte Hermann Göring als Angeklagter im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, sei, „mit heilen Knochen“ davonzukommen. Das ist eine schlichte, indes unverrückbare Einsicht. Obwohl das so ist, geben die Wenigsten vorzeitig auf, entschließen sich weder überzulaufen noch die weiße Fahne zu hissen, sondern fechten bis zum letzten Schwertstreich oder bis zur letzten Patrone.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Wer als Deserteur aufgegriffen wird, riskiert die Hinrichtung, wer freiwillig die Seiten wechselt, legt sein Schicksal in die Hand der Gegner. Und das ist allemal schwer zu kalkulieren, ist eine Sache mit ungewissem Ausgang. Eine gar nicht zu überschätzende Rolle spielen Patriotismus, ideologische Fixierungen, internalisierte Vorstellungen von soldatischer Ehre, Konventionen und Forderungen der Gesellschaft, Kriegstechnik und Kriegstaktik, nicht zuletzt die Kameraden, die man nicht verraten, nicht im Stich lassen will. Groß ist die Furcht vor sozialer Ächtung, vor Reputationsverlust, wenn man die eigene Haut retten will, ohne an seine Nebenleute oder gar an das große Ganze zu denken. Auch die Selbstachtung gilt es zu wahren. ‚Feigheit vor dem Feind‘ ist ein strafbewehrtes Delikt. Und vielleicht wichtiger noch: Wenn es denn schon keine Aussicht auf handfeste, ausmünzbare Vorteile gibt, dann womöglich die auf „Ruhm und Ehre“. Der preußische General und Militärtheoretiker Clausewitz hat im Streben nach derlei immateriellen Gütern so etwas wie „Seelendurst“ sehen wollen.

Holger Afflerbach schlägt in seinem Buch, das er bescheiden einen Essay nennt, weite Bögen, beginnt buchstäblich bei Adam und Eva und beschließt seine Wanderung durch die Weltgeschichte mit den asymmetrischen Kriegen der Gegenwart, die er allerdings nur noch summarisch würdigt. Begrifflich macht er einen Unterschied zwischen „systemischen“, bestimmten Regeln folgenden, und nicht systemischen, keine Regeln anerkennenden Kriegen. Dies ist natürlich ein Konstrukt, das in reiner Form kaum realitätstüchtig ist. In jedem regelgerechten Krieg, wenn solche denn überhaupt dingfest zu machen sind, lassen sich Phänomene und Verhaltensweisen beobachten, die nicht regelkonform sind. Das war, wie immer wieder deutlich wird, selbst in denjenigen Epochen der Fall, in denen die Bemühungen um eine Zähmung der Gewalt einsetzen, um eine international sanktionierte Verrechtlichung des Krieges. Man muss nicht allein auf den Vernichtungskrieg der Deutschen gegen Polen, Russen und Juden zwischen 1939 und 1945 verweisen, um die Grenzen solcher Konzepte zu erkennen.

Von Admiral Fisher, 1905 bis 1909 und 1914/15 der Erste Seelord der Royal Navy, stammt die erstaunte Frage: „Den Krieg humanisieren?“ Die lapidare Antwort lautet: „Dann kann man ja gleich davon sprechen, die Hölle zu humanisieren.“ Afflerbach stellt dies an den Schluss seines Buches und hält dagegen. Schließlich sei die Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte, argumentiert er, geprägt von „Fortschritten“ bei der normativen Einhegung des Krieges. Dem ist, wenn man die zahlreichen Winkelzüge und Rückschläge einrechnet, nichts hinzuzufügen, auch dann nicht, wenn der Blick auf die Empirie uns eher mit Skepsis erfüllt.

Titelbild

Holger Afflerbach: Die Kunst der Niederlage. Eine Geschichte der Kapitulation.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
320 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406645389

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch