Der Einspruch des Körpers gegen die Philosophie

Zu Gustav Seibts Essays „Goethes Autorität“

Von Gerhard MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gustav Seibt legt hier zehn Beiträge vor, die (so das „Nachwort“) zumeist 2007 bis 2012 in verschiedenen Periodika erschienen sind; ein Beitrag, der zu Helmuth Plessner, wurde 2002 veröffentlicht. Fünf dieser Texte gelten Johann Wolgang Goethe, deren einer dem publizierten Sammelband den Titel leiht.

Es sind geisteswissenschaftliche Essays unterschiedlicher Thematik, und alle sind lesenswert. Geschrieben sind sie, was für sie spricht, nicht im Fachjargon, sondern in eleganter, gehobener Standardsprache, so dass sie einem weiten Leserkreis zugänglich sind.

Der erste Beitrag, „Weltgeist auf Spaziergängen“, steht außerhalb der Gesamtthematik des Bandes. Er will den Blick darauf richten, wo „das kulturelle Herz Deutschlands schlägt“, und widmet sich Mitteldeutschland, besonders Thüringen und Sachsen-Anhalt mit ihrer reichen kulturellen Tradition. Seibt konstatiert dabei: „Thüringen und Anhalt erleiden heute ein Aufmerksamskeitsdefizit.“

Die nächsten vier Beiträge gelten mit konkreter und detailreicher Darstellungsweise Goethe. Leider sind sie zumeist ohne Anmerkungen und Hinweise, insbesondere Zitatnachweise gehalten, was gerade in der Buchausgabe der Texte ungünstig ist. „Goethes historische Zeit“ skizziert Haltung und Vorstellung von Geschichte des Weimarer Autors nach dem Todes Carl Augusts und stellt einen Dornburger Brief vom Juli 1828 ins Zentrum der Betrachtung: „Er ist vieles in einem, zeremoniöses Huldigungsschreiben, Lebensresümee und Ermahnung, nicht zuletzt kann er als Goethes politisches Testament begriffen werden.“ Am 15. August 1828 notiert Goethe, der sich der Zeitenwende bewusst war, die er erlebte, in seinem Taschenkalender: „Napoleons Geburtstag“, und der nächste Beitrag schließt an diese Worte an: „Sein Kaiser. Goethe im Empire“. Seibt stellt Goethes „Option für Napoleon“ dar. „Schon vor der Erfurter Begegnung also hatte Goethe sich unmissverständlich – und ohne Absprache mit seinem Herzog – auf die Seite der neuen Ordnung geschlagen.“ 1815 hatte Goethe bekannt: „Alle entschiedenen Naturen seien ihm Glück bringend, so auch Napoleon.“ In „Goethes Autorität“ geht es um „Fragen von Überlieferung und Autorität“. „,Gegen die Autorität‘, schreibt Goethe, ,verhält sich der Mensch, so wie gegen vieles andere, beständig schwankend‘.“ Seibt kommt auch auf „Goethes Wirkungsgeschichte, also „seine Autorität bei der Nachwelt“ zu sprechen, seine Wirkung auf die Späteren. Am Ende dieses Essays steht ein hübsches Wort Eckermanns: „Ich gab ihm recht und dachte, der Alte sagte doch gelegentlich immer etwas Gutes.“ In „Doktor Faustus II.“ geht der Autor ausführlich auf William Gaddis’ Roman „Die Fälschung der Welt“ ein, englisch „The Recognitions“ und 1955 erschienen. Dieses Werk ist „einer der kompliziertesten Romane, die je geschrieben wurden“ – mangels Kenntnis muss der Rezensent es bei dieser mageren Kennzeichnung bewenden lassen.

Mit „Nicht mitmachen. Meine Außenseiter“ beginnt der zweite Teil des vorliegenden Bandes. Seibt geht hier auf Jacob Burckhardt, Oscar Wilde, Arno Schmidt, Rudolf Borchardt und Thomas Mann ein, ebenso auf Goethe, besonders aber auf Wilhelm Raabes Romanfigur Heinrich Schaumann beziehungsweise „Stopfkuchen“, seinen „eigentlichen Lieblingsaußenseiter“. Eine eben genannte Person führt weiter: In „Dem Niagara entgegen“ befasst sich Seibt mit Jacob Burckhardt und seinen Vorlesungen zum „Revolutionszeitalter“ bzw. seinen Anschauungen zur Gegenwart. Viel Kritik an der Französischen Revolution kommt zur Sprache. „Ist Burckhardt ein gegenrevolutionärer Schriftsteller? […] Burckhardt wirkt aber heute womöglich viel gegenrevolutionärer als in seiner Zeit, weil für uns die Französische Revolution so viel selbstverständlicher zu den Grundlagen unserer Welt gehört.“ „Die Europäische Freiheit“ beschäftigt sich mit Friedrich von Gentz und diskutiert dessen Idee eines „europäischen Föderativ-Systems“. Als „Hauptgrundsatz“ hatte Gentz bekräftigt: „Kein Staat, ob groß oder klein, darf in seiner Existenz bedroht werden.“ Daneben: Schon für 1800 ist der Ausdruck Weltkrieg belegt (so in einer Schrift Gentz’). So interessant die Ausführungen Seibts alles in allem sind, skeptisch bin ich, ob eine so glatte Analogie zur Situation heute, wie der Autor sie vornimmt, berechtigt ist (so etwa: „das, was wir heute mit dem Begriff des failing state bezeichnen).“ Politik und Ökonomie, Kapitalismus und Imperialismus in ihrer heutigen Gestalt dürften mit den entsprechenden Zuständen um 1800 kaum gleichzusetzen sein. In „Im Land des Ungehorsams“ – ein reizvoller Essay – kommt Seibt konkret auf die Schauplätze von Theodor Fontanes Roman „Vor dem Sturm“ zu sprechen, er hat sie besucht. Das Land, um das es geht, ist Preußen. Auch hier werden alte Fragen neu gestellt. „Wer heute durchs Oderland reist, durch ein einsames Land im tiefen Frieden voller Spuren verheerender Zerstörungen […], der erkennt die Erbschaft dieser großen Fragen“. Näher zur Philosophie stellt sich der letzte Beitrag des Bandes: „Der Einspruch des Körpers“ gilt „Philosophien des Lachens“ seit der Antike, die Seibt im Gang durch die Jahrhunderte skizziert. „In drei Jahrhunderten Neuzeit haben ganze Kohorten von Philosophen, Ästhetikern, Theologen, Literaten, Weltleuten über das Lächerliche und das Komische nachgedacht. Nur das Lachen kam kaum in den Blick – er blieb fixiert auf seine Auslöser, für die immer allgemeinere Formeln gefunden wurden.“ Vor diesem Hintergrund bezieht sich Seibt positiv auf Helmuth Plessner und dessen „geniale Anthropologie“, insbesondere seine Studie „Lachen und Weinen“. „Das Lachen ist der Einspruch des Körpers gegen die Philosophie.“

Titelbild

Gustav Seibt: Goethes Autorität. Aufsätze und Reden.
zu Klampen Verlag, Springe, Deister 2013.
175 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866742239

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