Adoptivmutters langer Schatten

In „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ sucht Jeanette Winterson die Flucht aus einem engherzigen Elternhaus

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Problem mit einem Buch ist, das man nie weiß, was drinsteht, bis es zu spät ist.“ Diesen wunderbaren Satz äußert die Adoptivmutter der Autorin Jeanette Winterson. Die steife Anhängerin der Pfingstgemeinde verstand ihn als Warnung, denn in ihrem engen Herzen tolerierte sie nur ein Buch: Die Bibel. Täglich wurde daraus vorgelesen.

Ihre Tochter erzählt davon unter dem nicht minder wunderbaren Titel „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ – auch dies ein Satz aus der mütterlichen Quelle. Er markierte einst die Zäsur. Über Nacht entdeckte die 15-jährige Jeanette die Liebe – zu einem Mädchen. Unter diesem doppelten Tabubruch vermochte die Mutter bloß noch verzweifelt die Frage nach dem Glück zu stellen. Während sie selbst die Antwort a priori wusste, gab sie ihrer Tochter damit eine Aufgabe fürs Leben mit auf den weiteren Weg.

Die 1959 geborene Autorin erzählt eloquent und mit feinem Witz von einer Jugend im armen Norden Englands, welche in biblischer Rechtgläubigkeit festgefroren war. Die erhaltenen Schläge machten sie unempfindlich, aber auch hart und unduldsam. „Wer am härtesten zuschlägt, der gewinnt.“ Der Ausbruch aus dieser Welt schien freilich zu glücken, aus dem renitenten Mädchen wurde eine erfolgreiche Autorin, die schon 1987 in ihrem literarischen Debüt „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ eine glänzende Schilderung der juvenilen Nöte gab. In ihrem jüngsten Buch nimmt sie diesen Faden wieder auf, nun aber unter explizit autobiografischen Vorzeichen.

Die engherzige und depressiv veranlagte Mrs. Winterson gönnte sich gar nichts, und ihr folgsamer Gatte vermochte sich nicht dagegen aufzulehnen. An dieser doppelten Wand prallten die kindlichen Versuche der kleinen Jeanette ab, die Mutter zu lieben und zu ehren: „aber es ging nicht“. Anstatt Lebensfreude herrschte im Hause Winterson die beständige Vorbereitung auf die Apokalypse. Unter dieser Drohung wurde jeder Versuch zum Glück wie unter einer steifen Decke erstickt. Und regte sich ein Quäntchen Widerstand, wurde Jeanette vor die Haustüre gesetzt oder in den Kohlenkeller verbannt. Immerhin sei das Gute an letzterem, hält die Erzählerin im Rückblick fest, „dass man zum Nachdenken kommt“.

Einmal griff die Mutter im Kampf gegen solches Nachdenken zu einer besonders drastischen Maßnahme, indem sie die Bücher der Tochter verbrannte. Eher zufällig als geplant hatte Mrs. Winterson eines Tages genauer unter die Matratze der Tochter geschaut, wo sie nicht nur ein kleines Bücherlager fand, sondern darunter auch „Liebende Frauen“ von D. H. Lawrence. Derlei konnte sie nicht tolerieren. Ein Buch ums andere zerrte sie hervor und warf es durchs Fenster in den Hof. „Als sie fertig war, nahm sie den kleinen Paraffinofen aus dem Badezimmer, ging in den Hof, goss Paraffin über die Bücher und steckte sie in Brand. Ich sah die Bücher lichterloh brennen und ich weiß noch, dass ich dachte, wie warm es ist und wie hell in dieser eiskalten Januarnacht.“

Mrs. Winterson hatte instinktiv erkannt, dass von den Büchern die größte Gefahr drohte. Träumte sie doch davon, dass aus ihrer Tochter einmal eine Missionarin werden würde. Diese Träume lösten sich in Nichts auf, je mehr die Wahrheit zu Tage trat. Jeanette las und lernte so das Leben. Der Ausbruch aus dieser Welt war für die jugendliche Autorin eine Befreiung, doch die „Winterson’sche Obsession“ ließ sich nicht so leicht abschütteln. Zwanzig Jahre nach ihrem Romandebüt geriet sie nochmals ins innere Trudeln. Bereits früher hatte Jeanette Winterson eine „Flaschenpost“ aus der Vergangenheit gefunden: die Geburtsurkunde mit den Namen der leiblichen Eltern. „Ich habe nie jemandem davon erzählt.“ Sie wollte ihre Eltern nicht finden, dennoch taufte sie die Heldin aus „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ für das Fernsehdrehbuch 1990 von Jeanette zu Jess um – weil ihre Mutter aufgrund dieser Urkunde Jessica hieß.

2007 wurde sie jedoch von einer Trennungsgeschichte durchgeschüttelt, in diesem Moment der Wehrlosigkeit gewann auf einmal auch die Frage nach den Eltern neue Bedeutung. „In meiner Arbeit habe ich einen Weg gefunden, über die Liebe zu reden – und das war Wirklichkeit. Einen Weg gefunden, um zu lieben, hatte ich nicht.“

Eine Selbstmordversuch bildete den Tiefpunkt dieser Lebenskrise, aus der sie schreibend wieder herausfand, und mit Hilfe ihrer neuen Freundin Susie. Mit ihr wollte sie nun auch der eigenen Adoptionsgeschichte auf den Grund gehen – eine Prozedur, die sich mehr und mehr als via dolorosa durch Ämter und Büros herausstellen sollte. Als ob es für ein Adoptivkind kein Recht gäbe, die Identität der eigenen Eltern zu erfahren. Jeanette Winterson beschreibt diese quälende Prozedur, die sie mehrfach aufgeben wollte. Zuguterletzt aber erhält sie den Namen und die Adresse der Mutter – und sie findet den Weg zu ihr. Es ist keine unangenehme Überraschung, mitnichten, aber: „Ich spüre kein: ,Wow, das hier ist meine Mutter.‘“

Während die ersten Kapitel aus der Erinnerung geschrieben sind, schreibt sie diesen zweiten Teil ihrer Geschichte „in Echtzeit“, so dass Jeanette Winterson ihre Leser und Leserinnen direkt teilhaben lässt an ihrer emotionalen Achterbahnfahrt. Glück und Panik, vor allem aber Ratlosigkeit bilden die Essenz dieses Prozesses der Mutterfindung.

„Um nicht im engmaschigen Netz von Mrs Wintersons Geschichten zu landen, musste ich in der Lage sein, meine eigene zu erzählen“, bestärkte sich die Autorin schon in jungen Jahren. 30 Jahre später hat sich Jeanette Winterson nochmals gerettet – mit diesem sehr persönlichen, verletzlichen und dergestalt beeindruckenden Buch. Es endet mit der lakonischen Feststellung: „Ich habe keine Ahnung, was als Nächstes passiert.“

Titelbild

Jeanette Winterson: Warum glücklich statt einfach nur normal?
Übersetzt aus dem Englischen von Monika Schmalz.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
25o, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241497

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