Wege zum Ruhm

Die von Konstanze Fliedl herausgebene historisch-kritische Werkausgabe der Schriften Arthur Schnitzlers wird mit „Anatol“ und „Sterben“ fortgesetzt

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass eine historisch-kritische Ausgabe der Schriften Arthur Schnitzlers dringend notwendig war, zeigte bereits die Veröffentlichung des von Konstanze Fliedl herausgegebenen ersten Bandes zu „Lieutenant Gustl“ im Jahr 2011. Denn so zuverlässig wie die bislang einzig vorhandenen Ausgaben bei S. Fischer auch erschienen, es finden sich in ihnen doch zahllose Fehler und Änderungen am Text, die mit der historisch-kritischen Ausgabe nun sichtbar gemacht und revidiert werden.

Fortgesetzt wird dieses verdienstvolle Projekt nun mit den beiden Werken, die den literarischen Ruhm Schnitzlers begründeten: dem „Anatol“-Zyklus (herausgegeben von Evelyne Polt-Heinzl und Isabella Schwentner) – und seiner ersten in Buchform erschienenen Novelle „Sterben“ (herausgegeben von Gerhard Hubmann). Der „Anatol“-Zyklus zieht sich durch Schnitzlers Schaffen der 1880er- bis hin zu den frühen 1890er-Jahren. Der Entstehungsprozess der einzelnen Teile ist dabei überaus komplex, zahlreiche abgedruckte Notizen, Skizzen und Entwürfe zeigen die verschiedenen Stadien anschaulich – und werden von den Herausgebern in einer überaus informativen Vorbemerkung detailliert erläutert, zum Teil unterstützt durch übersichtliche Tabellen, die die häufigen Umgruppierungen der einzelne Einakter im Laufe von Schnitzlers Arbeit veranschaulichen. Die Handschriften zum „Anatol“ werden in der Reihenfolge ihres Entstehens im Faksimile und einer Umschrift dargestellt, beginnend mit „Anatols Hochzeitsmorgen“ (der im Zyklus an letzter Stelle steht), bis hin zu „Weihnachtseinkäufe“ (der später an die zweite Stelle rückt). Die Handschriften selbst umfassen neben den genannten die Teile „Episode“ (1888), „Frage an das Schicksal“ (1889), „Denksteine“ (1890), „Agonie“ (1890/91) und „Abschiedssouper“ (1891).

Die Blätter des Manuskriptes sind in Schnitzlers großzügigem Duktus geschrieben, umfassen zumeist zwischen elf und fünfzehn Zeilen, die Regieanweisungen sind unterstrichen, geschrieben wird fast ausnahmslos mit Bleistift. Auffällig sind vor allem in „Anatols Hochzeitsmorgen“ die zahlreichen Streichungen, die der Autor im Text vornimmt und die Handlung von Bearbeitung zu Bearbeitung mehr konzentriert; in den anderen Teilen wird weitaus weniger getilgt. Beachtlich ist auch in den „Anatol“-Bänden (der erste Band der Ausgabe umfasst die Handschriften bis zur „Agonie“, der zweite Band setzt diese ab „Abschiedssouper“ fort) die Leistung der Bearbeiter, Schnitzlers berüchtigte Handschrift zu enträtseln. Darüber hinaus enthält der zweite Band die Drucktexte und die sogenannten „Texte aus dem Anatol-Umkreis“, die hier erstmals versammelt werden.

Ebenso wie die Entstehung der Handschriften ist auch die Publikationsgeschichte der Druckfassungen nicht ganz einfach zu erschließen. Schnitzler bot dem S. Fischer Verlag wiederholt Teile aus dem „Anatol“ zum Druck an – jedoch ohne Erfolg. „Von ,Dramatischen Plaudereien‘ versprechen wir uns kein Geschäft“, heißt es knapp in einem Brief aus Berlin. „Sollten Sie event. geneigt sein die Herstellungs- und Vertriebskosten des Werkchens auf eigene Kosten zu übernehmen, so wären wir nicht abgeneigt“. Doch Schnitzler bleibt am Ball, mit Hilfe von Hermann Bahr versucht er noch einen weiteren Anlauf bei S. Fischer, aber auch dann ist der Verlag nur gegen einen Zuschuss von 400 Mark bereit, das Buch zu veröffentlichen. Der Erstausgabe erscheint dann nach weiteren erfolglosen Verhandlungen beim Bibliographischen Bureau Leipzig, erst ab der 2. Auflage von 1895 übernimmt der S. Fischer Verlag dann das Buch.

Die Drucktexte werden in der von Schnitzler bestimmten Abfolge wiedergegeben, die in den folgenden Druckfassungen durchgehend beibehalten wurde, beginnend mit „Die Frage an das Schicksal“, endend mit „Anatols Hochzeitsmorgen“. Die historisch-kritische Ausgabe folgt dabei der Erstausgabe, da nur Teile des Zyklus vorab im Druck erschienen sind, auf die jeweiligen – und zahlreichen – Abweichungen wird im Fußnotenkommentar eingegangen, ein umfangreicher Apparat und die Faksimiles verschiedener Illustrationen und Abbildungen zum „Anatol“ und seinem Verfasser vervollständigt den zweiten Band.

Eine Besonderheit der vorliegenden historisch-kritischen Ausgabe ist, dass sie, wie bereits genannt, auch sämtliche Texte Schnitzlers aus dem Entstehungsumfeld des „Anatol“ mit heranzieht. Knapp 140 Seiten des zweiten Bandes nehmen diese Texte, Gedichte und Skizzen ein und bieten so einen bislang in dieser Form nicht erhältlichen, wertvollen Fundus zur Genese des Textes. Darunter befinden sich neben verschiedenen Typoskripten mit Fragmenten auch der Einakter „Das Abenteuer seines Lebens“, der ursprünglich Teil des Zyklus war, im Lauf der Arbeiten daran aber herausgenommen wurde. Von Bedeutung ist dieser Einakter aber auch insoweit, als dass es sich dabei um das erste öffentlich aufgeführte Stück Schnitzlers handelt, das am 11. April 1891 im Rudolfheimer Theater und am 13. Mai 1891 am Theater in der Josefstadt aufgeführt wurde. Einige Novellenentwürfe mit thematischen Bezug zum „Anatol“ werden ebenso abgedruckt wie ein Operettenszenario, das Schnitzler im Februar 1902 verfasste und zahlreiche Gedichte, die Schnitzler unter dem Pseudonym „Anatol“ in „An der schönen blauen Donau“ 1889/90 publizierte – eine Gleichsetzung von Autor und Figur, die von ihm selbst im Nachhinein als Fehler angesehen wurde.

Die Arbeit an der Novelle „Sterben“, die Schnitzler unter dem Titel „Der nahe Tod“ ab Februar 1892 verfasste, ging – so die Aufzeichnungen des Autors – nur langsam vonstatten, immer wieder thematisierte er in Briefen und Tagebucheinträgen den schleppenden Entstehungsprozess. Im Juli 1892 beendete er zunächst die erste Fassung, griff den Stoff in den Folgemonaten aber mehrfach wieder auf, bis er sie am 30. Oktober 1892 in kleinem Kreise vortrug. „Novelle vorgetragen. – Schik, Fels, Beer-Hofmann, Loris, Salten, Vanjung. – Kapper. – Ungeahnt großer Erfolg. – […] Worte wie ,wunderschön‘, ,großartig‘ schwirrten herum; am meisten schiens auf Loris zu wirken, der ganz erschüttert war“, notierte er an diesem Abend in sein Tagebuch. Der Text selbst erschien dann zuerst in der „Neuen Deutschen Rundschau“ des S. Fischer Verlags, von Oktober bis Dezember 1894, dazwischen platzierte der Verlag im November die Buchausgabe. Die offensichtlichen Bedenken seitens des Verlages, man könne das Buch „des herben Stoffes wegen“ nur schlecht verkaufen, erwiesen sich als völlig unbegründet, bis 1912 erschienen sieben Neuauflagen des Buches.

Leider gibt es kein Original-Manuskript des Werkes – Schnitzler selbst vernichtete es im Mai 1908 –, auch eine Druckvorlage ist nicht überliefert. Die historisch-kritische Ausgabe versammelt aber sämtliche Entwürfe und Skizzen zu „Sterben“: Neben einem Deckblatt und einem Umschlag sowie sieben Seiten Notizen zwei kurze Handlungsskizzen. Die erste davon, von Schnitzler mit der Jahreszahl 1891 datiert, fasst auf knapp 15 Zeilen die Handlung der späteren Novelle knapp zusammen: „Er erfährt, daß er an einer Todeskrankheit leide – noch ein Jahr zu leben hat.– Sie, wie sie’s erfährt, beschließt, mit ihm zu sterben. […] Im Laufe des Jahres komt sie aber der Idee zu leben immer näher, bekomt Scheu vor dem Tod [.] Beide bemerken an einander die Aenderung – die letzten Tage im Süden“. Die zweite Skizze, betitelt „Naher Tod“ ist mit sieben Seiten wesentlich umfangreicher, hier werden bereits erste Details der Handlung sichtbar, der Herausgeber datiert diese Skizze plausibel auf die ersten Februartage 1892. Die Notizen zu „Sterben“ bestehen aus ebenfalls sieben Blättern, die wohl kurz nach der zweiten Skizze entstanden und die einzelne Motive und Szenarien weiter präzisieren.

Vor allem bei den Notizen wird auch hier wieder die Leistung, die beinahe unleserliche Schrift Schnitzlers überhaupt erst zu entziffern, deutlich: Winzig sind die Buchstaben, mit stumpfem Bleistift geschrieben, Artikel und Präpositionen fehlen oft gänzlich, die Zeilen wirken schnell und unachtsam hingeschrieben, Schnitzler neigt zudem dazu, ganze Wortteile auszulassen: „Wo laufst du herum? – Am nachs Tag weg. es regnet.“ muss mühsam aus „W laufst d heru?– A nachs Tg weg. es regnet“ erschlossen werden. Dass Schnitzler die Probleme seiner Handschrift aber durchaus bewusst waren, zeigt ein bezeichnender Satz in einem Brief am Marie Glümer vom 9. Oktober 1892, in dem es heißt: „Ich will nemlich meine Novelle dictiren, da sie kein Abschreiber lesen kann“.

Der Hauptteil der Ausgabe von „Sterben“ umfasst aufgrund der fehlenden Manuskript- und Druckvorlage dann den bereits genannten Erstdruck in der „Neuen Deutschen Rundschau“, im Fußnotenapparat werden die jeweiligen Abweichungen in der Erstausgabe (1895), den „Gesammelten Werken“ (1912) und den „Gesammelten Schriften“ (1928) gekennzeichnet. Die Abweichungen zwischen Erstdruck und den weiteren Fassungen sind auch in diesem Text zahlreich, dies ist umso gravierender, da diese Änderungen und Tilgungen durch den Verlag in der zweiten und allen nachfolgenden Auflagen der Erstausgabe nicht von Schnitzler selbst kontrolliert wurden, dieser hatte den Text, nach eigenen Angaben, zwischen 1894 und 1912 nicht erneut gelesen. So dokumentiert die vorliegende Ausgabe auch erstmals die Bedeutungsverschiebungen und Sinnfehler, die durch die Eingriffe des Verlages zustande kamen.

Der die Ausgabe abschließende Kommentar umfasst zwar knappe, aber hilfreiche Angaben zu kulturhistorischen, geo- und biografischen Daten im Umfeld des Textes. Man kann, nach „Lieutenant Gustl“, „Anatol“ und „Sterben“ auch auf weitere Bände der historisch-kritischen Ausgabe gespannt sein, mit der die Schnitzler-Forschung nun mehr als 80 Jahre nach seinem Tod endlich ein solides, unverzichtbares Handwerkszeug besitzt.

Titelbild

Arthur Schnitzler: Anatol. Historisch-kritische Ausgabe.
Herausgegeben von Evelyne Polt-Heinzl und Isabella Schwentner unter Mitarbeit von Gerhard Hubmann.
De Gruyter, Berlin 2012.
1214 Seiten, 599,00 EUR.
ISBN-13: 9783110273434

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Titelbild

Arthur Schnitzler: Sterben. Historisch-kritische Ausgabe.
Herausgegeben von Gerhard Hubmann.
De Gruyter, Berlin 2012.
164 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110296969

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