Aus dem Schatten heraus

Die von Stephan Kurz und Michael Rohrwasser herausgegebene Edition „A. ist manchmal wie ein kleines Kind“ verzeichnet die Kinobesuche von Clara Katharina Pollaczek und Arthur Schnitzler

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 21. April 1923 notiert Arthur Schnitzler in sein Tagebuch: „Mit Cl. P. Kino (Flamme Pola Negri, sehr gut)“. Dieser Eintrag dokumentiert nicht nur den ersten Kinobesuch, den Schnitzler mit seiner damaligen Lebensgefährtin Clara Katharina Pollaczek unternahm, sondern ist auch insofern ungewöhnlich, als er einen Film, den er gesehen hat, nachdrücklich lobt. Denn zumeist fallen seine Kommentare ebenso knapp wie vernichtend aus: „es bleibt immer wieder überraschend, wie dumm, ordinär und talentlos diese Filmdramaturgen sind“, heißt es etwa über Curt Blachnitzkys Drama „Nixchen“ (1927). Der Film sei „unwahrscheinlich dumm“ heißt es zwei Wochen darauf über „Die Flucht in die Nacht“ (1927) – und selbst über ein nach einem Drehbuch seines Freundes Felix Salten entstandenes Drama schreibt Schnitzler: „recht schlecht“ („Das verbotene Land“, 1924).

Die parallel dazu gegenübergestellten Kommentare Pollaczeks fallen auch nicht viel besser aus. Umso erstaunlicher wirkt daher die Tatsache, dass die Notizen der beiden mehr als 500 Kinobesuche zwischen 1923 und 1931 dokumentieren. Die Auswahl der Filme, die die beiden sich ansehen, wirkt recht beliebig, sentimentale Rührstücke, Arbeiten von Freunden und Bekannten stehen neben Klassikern wie „Ben Hur“ (1925), „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920) oder Paul Wegeners „Der Golem, wie er in die Welt kam“ (ebenfalls 1920), ins Kino ging Schnitzler mit Pollaczek offenbar zum bloßen Zeitvertreib und weniger aus kulturellem Interesse.

Wichtig waren sowohl Schnitzler als auch Pollaczek vielmehr die Begleitumstände, aus denen sich oft auch das Verhältnis zwischen den beiden gut herauslesen lässt. Schnitzler etwa notiert zumeist knapp, mehr dokumentarisch als persönlich Angaben zur Begleitung, zum Kino, dem angesehenen Film, und dem Ort des „Nachtmahls“. Mehr nicht – nur gelegentlich eine Bemerkung zum Film selbst. „Gegen Mittag zu C. P.“ heißt es etwa am 15. Juni 1930, „Abd, mit ihr Prater, Kino, Phantome des Glücks (Tschechow);– Prochaska genachtm.–“. Der Eintrag Pollaczeks hingegen geht in eine andere Richtung, ist weniger kühl, persönlicher gehalten: „Nach Monaten ein guter Tag, […] A. holte mich ab […]. Abend Kino, dann Heimfahrt Hand in Hand und viele liebe Worte“. Immer wieder sprechen aus ihren Notaten die Schwierigkeiten, die sie mit der Beziehung hatte. In den späten 1920er-Jahren häufen sich Klagen über die abweisende Haltung Schnitzlers, über sein beharrliches Schweigen bei gemeinsamen Spaziergängen, über die Rolle seiner geschiedenen Frau Olga, die Filme selbst treten mehr und mehr in den Hintergrund. „Ach, wenn ich doch nur dümmer wär, als ich bin“, schreibt sie am 25. April 1930 nach dem Besuch von Sternbergs „Der blaue Engel“, bei dem ihr Schnitzler von einem geplanten Treffen mit Olga erzählte „Ich fühle leider die Falschheit heraus. […] Und um mir den Mund zu stopfen verspricht er mir diese kleine Reise.“

Auf so etwas wie Verständnis für ihre Leiden stößt sie bei Schnitzler nur selten: „Abds. mit C. P. Kino ,Tiger‘ (Lon Chaney).– Ihre Thränen – mein Mitgefühl. Im Weingartl genachtm.“, schreibt er lapidar am 27. Januar 1930. „Zunehmende Zärtlichkeit. Vielleicht wird doch noch alles gut“, so lautet das ungleich empathischere Gegenstück bei Pollaczek.

Für Schnitzler selbst scheint der Kinobesuch in jenen Jahren nurmehr eine willkommene Gelegenheit zu sein, sich den Auseinandersetzungen mit Pollaczek zu entziehen – und nach dem Film hatte man beim „Nachtmahl“ ein möglichst unverfängliches Gesprächsthema. Einen weiteren, zunächst trivial anmutenden Grund für die exzessiven Kinobesuche nennt Michael Rohrwasser in seinem Aufsatz „Warum geht Arthur Schnitzler ins Kino?“Es ist die zunehmende Schwerhörigkeit Schnitzlers. Schon in den späten 1910er-Jahren finden sich in den Tagebüchern Einträge, die seine Schwierigkeiten dokumentieren, den Vorstellungen im Theater zu folgen. „Abds. mit Heini und Gustav Volksth. ,Jüdin von Toledo‘. Loge. Ich höre so ziemlich nichts.–“, heißt es am 25. August 1919, „V. th. General Probe, Schönherr, Kindertragoedie. Vermochte kaum zu folgen“, notiert er knapp drei Monate später. Im Kino – dem Stummfilm sei Dank – fällt diese Mühe weg: „Das Hören verursachte mir – oft nutzlose – Mühe.– Zur Erholung in ein Kino“, heißt es dann geradezu befreit am 24. September 1923. Die Anfänge des Tonfilms bekommt Schnitzler dann zwar noch mit, er kann ihm aber nicht viel abgewinnen, beinahe bei allen besuchten Tonfilmen finden sich negative Kommentare und Beschwerden über den „Lärm“, die „Störgeräusche“ und die fehlende dramaturgische Unterstützung durch die Musik. Das Kino diente Schnitzler also als Ablenkung, als Entspannung – und kam wohl auch dessen Scheu zugute, sich öffentlich zu Pollaczek zu bekennen.

Das vorliegende Buch entstand als eine Art Dokumentation im Anschluss an ein Seminar im Jahr 2008, das Rohrwasser an der Universität Wien anbot. Im Zuge dessen wurde er auf die bislang wissenschaftlich unerschlossenen Notizen von Clara Katharina Pollaczek aufmerksam, die in der Wien Bibliothek lagerten. Das Sichten und Ordnen der knapp 900 Seiten umfassenden Aufzeichnungen war jedoch nur ein Teil der immensen Mühe, die sich die beiden Herausgeber, Daniel Schopper und weitere Mitarbeiter mit dem Band gemacht haben. Im akribischer Kleinarbeit wurden Kinoprogramme rekonstruiert und die Notate Pollaczeks mit den korrespondierenden Tagebucheinträgen Schnitzlers einander gegenübergestellt. Die Materialien ermöglichen eine ganz neue Perspektive nicht nur auf das Verhältnis zwischen dem berühmten Dichter und der fast vergessenen Schriftstellerin, sondern erweitern auch den Blick der Forschung auf das Verhältnis Schnitzlers zum Film. Stand bislang der „geschäftliche Teil“, der Umgang des Autors mit der Filmindustrie etwa als Verfasser von Drehbüchern im Vordergrund, so fällt der Blick hier erstmals auf den privater Kinogänger Schnitzler. In Verbindung mit den Notizen Pollaczeks erscheint nun auch die Person Schnitzler in einem anderen Licht.

Mit einem  Aufsatz und einer kommentierten Bibliografie von Stephan Kurz versucht der Band darüber hinaus, die Forschung zu Leben und Werk von Clara Katharina Pollaczek anzustoßen, um diese ein aus dem „Schatten Schnitzlers“ heraustreten zu lassen, wie Kurz in seinem Text anregt.

Und beinahe nebenbei liefert das Buch eine kulturhistorische Forschungsarbeit zum frühen Kino in Wien. Die Einträge zu den Kinobesuchen werden – sofern verfügbar – mit Angaben zum Film selbst, zum Veranstaltungsort und zum Datum der Erstaufführung ergänzt und bieten so einen überaus detaillierten Überblick über das Programm der Lichtspielhäuser zwischen 1923 und 1931. Im Anhang des Buches finden sich darüber hinaus eine umfangreiche Liste der genannten Wiener Kinos, ein umfangreiches Personenregister und einen erhellenden Aufsatz von Werner Michael Schwarz zur Kulturgeschichte des Kinos in Wien.

Titelbild

Stephan Kurz / Michael Rohrwasser (Hg.): "A. ist manchmal wie ein kleines Kind". Clara Katharina Pollaczek und Arthur Schnitzler gehen ins Kino.
Böhlau Verlag, Wien ; Köln ; Weimar 2012.
399 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783205787464

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