Zeigen, was man hat

Gia Toussaint analysiert den hochmittelalterlichen Wandel im Umgang mit Reliquien

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reliquien haben als stoffliche Manifestationen des Heiligen einen festen Platz in religiösen Ritualen – in der katholischen Kirche bis heute. Kein Kirchengebäude kommt ohne die Materialität des Heiligen aus. Zwar hat sich die Bedeutung der Reliquie im Glaubensleben gewandelt, doch als Hinweis auf die Heiligkeit, also auf das, was sonst unsichtbar und entrückt ist, kann die Reliquie eine stärkende Wirkung haben. Zugleich ist sie – aufbewahrt in kostbaren Gefäßen – ein Gegenstand der Kirchenkunst.

Die Kunsthistorikerin Gia Toussaint hat für eine Epoche, in der Reliquien von größter Wichtigkeit waren, nämlich für das Hochmittelalter, die Verzahnung von Bedeutung und Präsentation untersucht und für die zunehmende Ausstellung der Reliquien eine neue Begründung gefunden: Nicht die gotische „Schaufrömmigkeit“ sei der eigentliche Grund der neuen Präsentationskultur im 12. und 13. Jahrhundert gewesen, sondern der Wille, mit der Exposition der Reliquie erobertes Beutegut auszustellen.

Die Reliquien, so Toussaint, entstammten zunehmend der Begegnung der Kreuzfahrer mit den Heiligtümern des Nahen Ostens, insbesondere dem Kreuz, an dem Jesus Christus starb, von dem Stücke im Zuge des Ersten Kreuzzugs am Ende des 11. Jahrhunderts angeblich aufgefunden und kleinteilig nach Europa verbracht wurden, und den Knochen bedeutender Heiliger, die in Byzanz offen sichtbar ausgestellt waren und die auf dem Vierten Kreuzzug Anfang des 13. Jahrhunderts geraubt und in den Westen verbracht wurden. In ihrer Studie „Kreuz und Knochen. Reliquien zur Zeit der Kreuzzüge“ spürt Toussaint, Privatdozentin für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg, den Legenden nach und schildert ihren Einfluss auf Kult und Kultur christlicher Frömmigkeit im Hochmittelalter.

Dabei ist es keineswegs so, dass die Menschen zu dieser Zeit leichtgläubig waren, im Gegenteil: „Durch das ganze Mittelalter finden sich Stimmen, die an der historischen Zuverlässigkeit von Heiligenviten zweifeln, die Wunderberichte und Visionen als unglaubwürdig zurückweisen und die Echtheit von Reliquien in Frage stellten.“ Das galt desto mehr, je wertvoller die Reliquie war. Die „Kreuzauffindungslegende“, also der Ur-Mythos aller Verehrung des (angeblichen) Kreuzholzes in splittergroßen Reliquien, wurde folglich sehr kritisch gesehen. Bereits die erste Entdeckung des Kreuzes durch Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, im 4. Jahrhundert, war Gegenstand theologischer Debatten. Im „Decretum Gelasianum“ vom Anfang des 6. Jahrhunderts werden die Christen in ihrem Urteilsvermögen an Paulus erinnert: „Alles prüfet, das Gute behaltet.“ (1. Thess. 5, 21) – eine ziemlich unverhohlene Warnung vor Leichtgläubigkeit. Als nun die Kreuzfahrer Anfang des 12. Jahrhunderts mit der Nachricht aufwarteten, dass „ein kleines Stück vom Kreuz des Herrn an einem geheimen Ort gefunden wurde“, nämlich das, welches Helena in Jerusalem zurückgelassen hatte, sei der Reliquie rasch „eine theologisch fundierte Legitimität zugewiesen“ worden, so dass sie wenig später zum Gegenstand der Verehrung avancierte, obwohl es nach wie vor Stimmen gab, welche die Verehrung der vera crux (wahres Kreuz) in Gestalt des lignum (Holz) als „heidnisch“ ablehnten. Die zahlreichen, von Toussaint in Text und Bild vorgestellten Präsentationen der Kreuzreliquie in Form des Doppelkreuzes, des Gemmenkreuzes und von Triptychen zeigen jedoch, wie der Kult um das „kleine Stück vom Kreuz des Herrn“ fortan blühte.

Ähnliches passierte nach der Plünderung Konstantinopels, der damals größten christlichen Stadt der Welt, durch die Kreuzfahrer des Vierten Kreuzzugs, die damit unter anderem den Schiffstransport durch die Flotte Venedigs „bezahlten“. „Praktisch alle relevanten Reliquien“ seien von den Kreuzfahrern geraubt worden – ein unermesslicher Schatz, der auf diese Weise ins Abendland gelangte. Die Überführung der reichen Beute wurde „als Translationsgeschehen mit adventus inszeniert und rechtfertigte damit nach kanonischem Recht die unverhüllte Schau der neuen Reliquien“. Der adventus reliquiarum erinnert ein wenig an die Rückkehr des Triple-Gewinners FC Bayern nach München: „Als sie sich der Stadt näherten, ließ er [Bischof Konrad von Krosigk, einer der Kreuzfahrer, J. B.] den ebenso wertvollen wie heilsamen Schatz, nämlich die Reliquien der Heiligen, die er mitbrachte, auf eine Trage legen und, auf schickliche Weise geschmückt, vor sich herführen. Die gesamte Stadt, Klerus und Volk, Prälaten und alle Kleriker des Bistums eilten ihm schon von weitem entgegen, alle ehrbaren Männer, auch eine unzählbare Menge aus den angrenzenden Gebieten. Sie empfingen ihn, in feierlichem Dreischritt tanzend. Eine so große Menschenmenge und solche Feierlichkeit war noch nie gesehen worden.“

Die Begeisterung über die Translation, die Toussaint als „East goes West“ bezeichnet, verstetigte sich durch die fortgesetzte Präsentation und Verehrung der Reliquien in den Klöstern und Kirchen, in Sakristeien und Kapellen. Zugleich hatte sich die Reliquie in ihrem Charakter als wahrnehmbare Orientierung frommer Devotion von einer verborgenen Repräsentation des Sakralen zum sichtbaren Präsentationsobjekt gewandelt, zu einem Gegenstand offener und öffentlicher Anschauung, ohne dass dabei die Schaulust im Vordergrund stand. Sie war, so Toussaint, nicht das Motiv der nunmehr unverhüllten Exposition. Entscheidend war stattdessen die Mischung aus der Erfahrung eines offenen Umgangs mit den Manifestationen des Heiligen innerhalb der Ostkirche und dem Triumph über ihre Aneignung. Dies nachgewiesen zu haben, ist das kunst- und kirchenhistorische Verdienst Gia Toussaints.

Titelbild

Gia Toussaint: Kreuz und Knochen. Reliquien zur Zeit der Kreuzzüge.
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2011.
288 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783496014317

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch